Goethes Begegnung mit dem Islam – Der Dialogversuch zwischen Orient und Okzident

Goethes Begegnung mit dem Islam – Der Dialogversuch zwischen Orient und Okzident

Joseph Karl Stieler [Public domain]

In der heutigen Predigt geht es um den großen deutschen Dichter und Denker Johann Wolfgang von Goethe und seinem Verhältnis zum Islam. Es gibt nicht wenige Leute, die sich die Frage stellen, was hat denn ein Goethe überhaupt mit dem Islam zu tun? Ist Goethe nicht ein Dichter und Denker, der sich nur mit deutschen, europäischen, christlichen und jüdischen Werken beschäftigt hat? Und spricht man über seine Werke, fallen einem direkt ein: „Faust“, „Wanderers Nachtlied“ oder auch „Die Leiden des jungen Werthers“. Ein weiteres Werk von ihm sollte mindestens genauso beachtet werden und zwar der „West-östliche Divan“, da er ein Riesenpotential fürs friedliche Miteinander birgt.

Wie entstanden überhaupt seine Werke? Impulse und Inspirationen, um dadurch eigene Schriften zu kreieren, bekam er vor allem durch die Korrespondenz mit vielen seiner Zeitgenossen. Wichtige Denker wären hier z.B. Friedrich Schiller, Johann Gottfried von Herder oder auch Christoph Martin Wieland. Diese Menschen starben aber nach und nach, und Goethe, der sich aus seiner Trauer um seine verlorenen Freunden langsam wieder erholte, nahm sich aus anderen Schriftstücken Anregungen fürs eigene produktive Schaffen. Diese Anregungen bekam er aus dem Orient und aus dem Islam, die auch zum Entstehen des Divans beigetragen haben.

Aufschlussreiche Erkenntnisse bieten die Bücher der renommierten Literaturwissenschaftlerin Katharina Mommsen: „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen. Goethe und die Weltkulturen“ oder auch die vielen Briefwechseln Goethes sowie sein autobiographisches Werk „Dichtung und Wahrheit“ und selbstverständlich sein grandioser West-östlicher Divan.

Was bedeutet überhaupt Divan? Das ist kein unwichtiger Begriff! Divan bedeutet sowas wie Versammlung und manche würden auch Verbindung sagen. Was Goethe also in seinem West-östlichen Divan verbinden, zusammenführen und in einer friedlichen Versammlung vereinigen wollte, waren die Gesellschaften des Orients und Okzidents. Wie intensiv sich Goethe mit dem West-östlichen Divan beschäftigte, zeigen Aussagen von ihm in seiner autobiographischen Schrift „Dichtung und Wahrheit“ für das Jahre 1815: „[…] denn wäre dieser Trieb aufgehalten, abgelenkt worden, ich hätte den Weg zu diesem Paradiese nie wieder zu finden gewußt.“

Goethe schreibt in einem sehr wichtigen Divan-Gedicht: „Gottes ist der Orient. Gottes ist der Okzident. Nord – und südliches Gelände. Ruht im Frieden seiner Hände.“ Klingt nicht nur schön, sondern hat eine ganz klare Message, wie Mommsen drauf hinweist, dass der Orient weder den Orientalen, noch der Okzident den Okzidentalen gehöre, sondern diese Gebiete gehören Gott. Und was möchte Gott in diesen Gebieten? Im letzten Teil findet sich dessen Intention, nämlich Frieden. Die Herabsendung der heiligen Schriften sollte also ein friedliches Miteinander schaffen, fernab von jeglichem (ethnischem oder religiösem) Nationalismus im Orient und Okzident. Daran anschließen kann man auch sagen, dass der Koran ebenso eine Annäherung der Menschen befürwortet, da es in der Sure 49, Vers 13 heißt: „O ihr Menschen, wir haben euch ja von einem männlichen und weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von Euch. Gewiss, Allah ist allkundig und allwissend.“ Das friedliche Miteinander war ein Moment im Koran, was Goethe ebenfalls nicht verborgen blieb. Die Anfangsstelle des Gedichts findet sich in der al-Baqara, also in der 2. Sure (Goethes Lieblingssure), Vers 115, wo begonnen wird: „Allah gehört der Osten und der Westen; wohin ihr euch auch immer wendet, dort ist Allahs Angesicht. Allah ist allumfassend und allwissend.“ Das Gedicht von Goethe zeigt sehr aussagekräftig, die Kombination aus koranischen und goethischen Textstellen.

Goethes erste Begegnung mit Muslimen fand im Jahre 1813 statt. Es waren baschkirische Soldaten, die in der deutschen Stadt Weimar nach Räumlichkeiten fragten, um ihr Freitagsgebet praktizieren zu können. Goethe besaß eine große Aufgeschlossenheit gegenüber außereuropäischen Kulturen. Er begegnete ihnen nicht direkt mit Misstrauen und Ablehnung, was typische Haltungen für viele seiner Zeitgenossen waren. Goethe selbst schaute stattdessen neugierig auf die verschiedenen Gesellschaften auf den Globus. Aus einem Briefwechsel mit seinem Freund Heinrich von Trebra schreibt Goethe am 05. Januar 1814 über seine Begegnung mit den Muslimen: „Da ich von Weissagungen rede, so muß ich bemerken, daß zu unserer Zeit Dinge geschehen, welche man keinem Propheten auszusprechen erlaubt hätte. Wer dürfte wohl vor einigen Jahren verkünden, daß in dem Hörsaale unseres protestantischen Gymnasiums mahometanischer Gottesdienst werde gehalten und die Suren des Korans würden hergemurmelt werden, und doch ist es geschehen, wir haben der baschkirischen Andacht beigewohnt, ihren Mulla geschaut, und ihren Prinzen im Theater bewillkommt.“

Und wisst ihr, an welchem Tag die Muslime ihr Freitagsgebet verrichtet haben? Das Ganze wurde festgehalten am 24. Dezember 1813. Und was ist das Besondere an diesem Tag? Natürlich geht es da um Weihnachten! Goethe hatte gesehen, dass auf der einen Seite Muslime friedlich ihr Freitagsgebet im protestantischen Gymnasium hielten und wenige hundert Meter weiter, Christen ihre Weihnachtsfeier in der Kirche zelebrierten. Dieses Bild, wie jede Religionsgemeinschaft in ihrer Spiritualität ganz friedlich in sich gekehrt war, hinterließ bei Goethe einen tiefen Eindruck. Tatsächlich blieb es aber nicht bei der einfachen Teilnahme am muslimischen Gottesdienst. Goethe fasste Mut zusammen und bat die Muslimen zu sich in seinem Haus, um sich miteinander auszutauschen. Ich komme auf diese Begegnung gleich zurück.

Im West-östlichen Divan finden sich auch viele weitere Stellen, die ihre Anregungen aus dem Koran schöpfen. Womit fängt das erste Gedicht im Divan eigentlich an? Es ist das Hegire-Gedicht. Und welche Bedeutung hat Hegire? Es ist das französische Wort für Hedschra und dieser Begriff wiederum ist arabisch und bedeutet Flucht. Im islamischen Kontext beschreibt man damit in der Regel die Flucht des Propheten (s.a.w.) aus Mekka, als er die Mekkaner nicht für die islamische Religion überzeugen konnte, woraufhin er nach Medina floh. Und was genau sagt Goethe in diesem Gedicht an einer Stelle: „Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern, flüchte du im reinen Osten, Patriarchenluft zu kosten.“ Goethe hat sich in diesem Hegire bzw. Hedschra Gedicht mit der Flucht auseinandergesetzt. Die Flucht also in den Osten, als die Gebiete der anderen Himmelsrichtungen zerstört wurden. Goethe machte sich deshalb imaginär auf in den Osten, worin er beglückende Momente erlebte.

Interessant ist hier halt, dass er in diesem Gedicht ein zentrales Motiv des Islams, also die Hedschra, angefangen im Jahre 622, wo auch die islamische Zeitrechnung begann, an einem ganz bestimmten Tag datierte. Und welcher Tag war das wohl? Es war der 24. Dezember 1814, also ein Jahr nach seiner Begegnung mit Muslimen und genau der Tag, der Heiligabend, als die christliche Zeitrechnung mit der Geburt Jesus Christus stattfand. In diesem Gedicht verbirgt sich somit der Gedanke des Beginns der islamischen und indirekt der der christlichen Zeitrechnung, etwas was er im West-östlichen Divan würdigt. In einem Brief erwähnt Goethe auch, dass er für seinen Divan ein breites Lesepublikum finden möchte und gleichzeitig bittet er seinen Brieffreund, er solle niemandem über sein Dichtwerk erzählen, da er einigen seiner Zeitgenossen nicht traute. Es ist auch kein Zufall, dass Goethe in seinem Werk: „West-östlicher Divan“ ein Kapitel mit der Überschrift: „Noten und Abhandlungen zum Divan“ verfasste und darin schreibt er: „Nun wünscht ich aber, daß nichts den ersten guten Eindruck des gegenwärtigen Büchleins hindern möge. Ich entschließe mich daher, zu erläutern, zu erklären, nachzuweisen, und zwar bloß in der Absicht, daß ein unmittelbares Verständnis Lesern daraus erwachse, die mit dem Osten wenig oder nicht bekannt sind.“ Er wusste daher, dass viele Zeitgenossen seinen Divan schon alleine deswegen nicht verstehen können, weil es sich um eine Verbindung von west-östlichen Gedanken handelt und seine Zeitgenossen eher deutschnational oder eurozentristisch dachten. Mit 23 Jahren setzte sich Goethe auch mit dem islamischen Religionsgründer Mohammed (s.a.w.) auseinander. Er fing an ein Dramenstück über ihn zu schreiben, wobei es jedoch nur wenige Auszüge noch davon gibt. Der Titel des Stücks lautet: „Mahomets Gesang“ und auch die wenigen Zeilen davon sind es wert gelesen zu werden.

In einem weiteren Briefwechsel bezog er sich vorher sehr positiv auf den Dichter Hafis. Bemerkenswert ist es ja auch, dass Goethe den persischen Dichter Mohammed Schem-seddin Hafis als seinen Zwilling bezeichnete, was außergewöhnlich ist für den Umstand, dass zwischen Goethe und Hafis nicht nur geographische, sondern auch eine zeitliche Distanz von ca. 400 Jahren liegen. Hafis ist auch der Titel für jemanden, der den Koran auswendig kann und dies konnte eben Mohammed Schem-seddin Hafis, der ebenfalls Koranlehrer war. Hafis stand vor allem für einen sufischen Islam. Goethe selbst schrieb: „Und mag die ganze Welt versinken, Hafis mit dir, mit dir allein, Will ich wetteifern! Lust und Pein, Sei uns den Zwillingen gemein! Wie du zu lieben und zu trinken, Das soll mein Stolz, mein Leben seyn.“

Heutzutage stellen sich ja einige die Frage, ob er denn Muslim gewesen sei? Oft wird diese Frage mit dem Hinweis bejaht, dass er es doch (angeblich) selbst schreibe. In der Tat können manche Textstellen bei ihm dazu verleiten, zu glauben, er wäre Muslim.

Ich sehe das nicht so! Und das möchte ich an einem Beispiel zeigen. Goethe schreibt im „West-östlichen Divan“ im Buch der Sprüche: „Närrisch, daß jeder in seinem Fall, Seine besondere Meinung preis‘t! Wenn Islam Gott ergeben heißt, In Islam leben und sterben wir alle.“ Ich zitiere hierzu wörtlich Katharina Mommsen, die diese Stelle sehr treffend auf den Punkt bringt: „Dieses Bekenntnis zum Islam hat man Goethe in Deutschland öfter verargt, dabei besagt der Spruch doch eigentlich nur, daß das Wort „Islam“ Ergebenheit in den Willen Gottes bedeutet und der Mensch sich einzig Gott als der allerhöchsten Instanz ergeben sollte, was schließlich für alle Menschen Gültigkeit hat, unerachtet der Religion, die dem einzelnen durch Geburt und Lebensumstände zugefallen ist.“

Um nochmal auf den Koran zusprechen zu kommen: Goethe befasste sich während seines Straßburger Studiums sehr früh mit dem Koran, da war er etwa 22 Jahre alt. Derjenige, der ihn dazu motivierte, sich mit der koranischen Schrift auseinanderzusetzen, war der bereits erwähnte Johann Gottfried von Herder. Und was empfand Goethe in seiner Beschäftigung mit dem Koran? Einerseits war er begeistert, aber andererseits und das gehört auch dazu, gab es Stellen, die ihm missfielen. Goethe merkte in den „Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan“ im Unterkapitel „Mahomet“ kritisch an, dass der Prophet sich dem Mittel der Gewalt bediente. Und dasselbe gilt auch für den Koran, wo er einerseits schöne Passagen fand, aber ihm auch andere, nicht friedvolle Textstellen auffielen.

Die Kritik, die Goethe auch am Islam hatte, heißt nicht in letzter Konsequenz, dass er ein Islam-Gegner war, das stünde ja völlig im Widerspruch zu seinen Lobpreisungen über den Islam. Vielmehr sollten wir für uns die Lehre ziehen, dass auch wir einen kritischen Geist beibehalten und historisch-kritisch an die islamischen Schriften herangehen sollten. Hat uns Goethe eigentlich etwas für die Gegenwart zu sagen? Er lebte doch vor über 200 Jahren. Ist er überhaupt aktuell? Diese Frage kann ich ganz klar mit Ja beantworten und zwar deswegen, weil hoffentlich ersichtlich wurde, wie sehr Goethe um einen Dialog zwischen Orient und Okzident poetisch kämpfte und viele Gemeinsamkeiten erkannte. Diejenigen, die heute die Parolen rufen: „Deutschland den Deutschen“ und auch „Guck mal, was wir Deutsche für Dichter und Denker hervorgebracht haben“, denen würde ich zurufen: Ja, schaut euch oder noch besser liest euch mal in die Werke „eurer“ Dichter und Denker durch. Liest was sie schrieben und erkennt, dass beispielsweise ein großer Dichter und Denker wie Goethe euren Nationalismus aufs Schärfste verurteilen würde. Ihr könnt euch von eurer politischen Haltung ganz pauschal auf deutsche Dichter und Denker positiv beziehen, während sie doch eure politische Haltung ablehnten, was Goethe meisterlich mit seinem West-östlichen Divan und seiner sonstigen Aufgeschlossenheit gegenüber außereuropäischen Kulturen unter Beweis stellte. Die zweite Frage für unsere Gegenwart, die ich mir stellte, lautete: Wie würde Goethe eigentlich reagieren, wenn er wüsste, dass es heute ein muslimisches Gotteshaus gibt, nämlich diese Moschee, die seinen Namen trägt? Angesichts dessen, dass in dieser Moschee sämtliche muslimische Strömungen, wie z.B. Sunniten, Schiiten, Sufis und andere hier friedlich unter einem Dach beisammen kommen, dass diese Moschee sich im stetigen interreligiösen Dialog mit z.B. dem Christentum und dem Judentum befindet und man es hier mit herzlichen und offenen Gemeindemitgliedern zu tun hat, ich glaube, dass Goethe für diese Moschee Freudensprünge gemacht hätte.

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