2020

2020

Kelly Sikkema
Kelly Sikkema

Assalamu alaikum wa rahmatullah wa barakatuhu.

A’udhu bilahi min asshaitan alragim, bismillah arrahman arrahim.

„Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen.
Lob sei Gott, dem Herrn der Welten,
Dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
Dem Meister des Gerichtstages.
Dir dienen wir und dich allein bitten wir um Hilfe.
Leite uns den rechten Pfad
Den Pfad derer, denen Du gnädig bist, nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden.“

Seid herzlichst gegrüßt in der Ibn Rushd-Goethe Moschee, dem Ort von Frieden und Liebe.

Das neue Jahr ist schon wieder ganz zur Gewohnheit geworden. Alle guten Vorsätze sind wie immer über Bord gegangen, oder werden demnächst verworfen. Zu Neujahr schrieb jemand: Ich habe mir diesmal keine neuen Vorsätze genommen. Ich habe einfach die alten nochmal genommen, sie waren noch völlig unbenutzt.

Da es meine erste Khutba dieses Jahr ist, wünsche ich euch ein frohes neues Jahr, oder vielmehr ein gutes Jahr. Möge es Frieden unter den Menschen bringen und die Würde aller Lebewesen in den Vordergrund stellen – vor Geld, Bequemlichkeit und Appetit. Die Khutba handelt davon, dass es gesund ist, Dinge fertigzustellen, oder abzuschließen.

Dieses Jahr hat einen besonders schönen Namen. 20 20, oder Zweitausendundzwanzig, hört sich nach etwas sehr Rundem an, irgendwie vollständig. Ich habe das Gefühl, dieses Jahr werden viele Dinge zu ihrem guten Abschluss gebracht. Alles, oder jedenfalls Vieles, was so im ungeraden 2019 oder zuvor begonnen hatte, werden wir durch gute Entscheidungen oder fleißiges Handwerk fertigstellen. In mir entsteht das Bild eines Teppichs, der gewebt wird. Es ist der Teppich unseres Lebens. Die Fäden dieses Teppichs, die wir gleichsam an einem Ende angeknotet haben, werden wir in diesem Jahr auch am anderen Ende verknoten, oder verweben, so das wieder neue und neue Reihen bunter und reicher Muster entstehen, auf die wir zurückblicken können. Dieses Jahr wird voller schöner Farben sein.

Mein Leben ist ein bunter Teppich, überwiegend in dunklen Tönen gehalten. Schrill ist er nicht. Das dunkle Blau des Abendhimmels dominiert, teils geht es über in ein tiefes Schwarz der Mitternacht. Aber an manchen Stellen scheint mein Teppich im strahlenden Rosa der frühen Morgenstunden und an anderen Stellen gar in leuchtendem Rot. Der gesamte Teppich ist durchwirkt von einem feinen Faden aus Gold – den Wert jeden Moments des Lebens bestätigend. Den Wert all dessen, was geschehen ist, und all derer die mir besonders lieb sind. Auch den Wert meiner Selbst. Freude steckt darin, aus vielen Tagen und Nächten, Langeweile, Trauer, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Lust und Vertrauen. Stetig, Jahr für Jahr weben wir unseren Teppich in unseren eigenen Farben, der ganz eigenen Dicke des Fadens und dem ganz eigenen Gefühl. Ist er eher kratzig, eher weich, eher hell, oder dunkel, gestreift, durchmustert? Auch 2020 weben wir weiter. Faden um Faden ziehen wir langsam bis zum Ende der Reihe hindurch, bis der Teppich in allen Farben des Lebens gewebt ist und wir ihn unseren Kindern und unseren Liebsten als Erbe hinterlassen.

Warum 2020 für mich als etwas Besonderes erscheint, weiß ich nicht genau, aber es begann schon gleich am ersten Januar.

Es wird an der 20 liegen. Es ist die Zahl all unserer Finger zweimal – oder die Zahl all unserer Finger und Zehen zusammen.

Das Zehnersystem ist uns aus unserer Körperwahrnehmung sehr präsent. Wir haben uns auch daran gewöhnt, unsere Mathematik auf dem Zehnersystem aufzubauen – Zehn Einer werden gebündelt zu einem Zehner. Zehn Zehner werden gebündelt zu einem Hunderter, zehn Hunderter zu einem Tausender, usw. 20 ist zweimal 10 und damit das doppelte Bündel. Eine Art doppelter Vollständigkeit. Etwas zu vervollständigen, zu beenden, zu erreichen, empfinden wir als angenehm.

An sich ist die Zahl 2020 natürlich willkürlich und für jeden von uns sind es andere Jahre, die Besonderheiten in sich tragen. Jahre können persönliche Bezugspunkte darstellen. Traditionell finden wir unser Geburtsjahr recht wichtig. Es dient nicht nur dem Staat, der es in unserem Pass verankert, sondern auch uns selbst als Referenzpunkt. Unser Alter empfiehlt – oder befiehlt – uns, wie wir uns zu verhalten haben, wie zu reden, wie uns zu kleiden. Und so ist das Geburtsjahr das Jahr der Freiheit, in dem wir uns beginnen als Mensch zu entfalten und zugleich das Jahr der Einschränkung, denn von nun an sind wir mit Leib und Seele den Gesetzen der Gesellschaften unterworfen, in denen wir leben.

Jahre können auch gemeinschaftliche Bezugspunkte darstellen und so die Gemeinschaftsbildung unterstützen. Vor vielen hundert Jahren versuchte der militärische Führer Abraha, die Kaaba zu zerstören, doch einer seiner Militärelefanten weigerte sich, die Stadt Mekka zu betreten. Vielleicht hatte er eine Kraft wahrgenommen, die über die Befehlskraft seines menschlichen Besitzers hinausging und war ihrer Anweisung gleichsam eigenmächtig gefolgt. Im Jahr des Elefanten ist der Prophet Mohamed, Friede sei auf ihm, geboren, und überbrachte uns die Botschaft von Barmherzigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt.

Als ich zum ersten Mal über die Zahl 2020 nachdachte, hatte ich also dieses Gefühl der Vollständigkeit. Ich stellte mir vor, wie ich die Karten eines Kartenspiels in der Hand hielt – alle vier Zehner bei mir, Kreuz, Pik, Herz, Karo. Jeder Zehner stand für den Abschluss von etwas, das ich irgendwann begonnen hatte, für das Fertigstellen. Vor meinem inneren Auge warf ich die Karten nacheinander kraftvoll auf den Tisch.

Kreuz Zehn – Kinder bekommen – komplett.

Pik Zehn – Eine Arbeitsstelle gesichert – komplett.

Karo Zehn – Eine Wohnung – komplett.

Herz Zehn – Eine Partnerschaft – komplett.

Naja – die Liste kann irritieren, weil wir diese Dinge vielleicht gar nicht haben. Aber irgend etwas hat jeder geschafft, oder erreicht, oder vollbracht. Oder man kann auch sagen, zum Abschluss gebracht. Was hast du vollbracht?

Hat deine Wohnung in jedem Zimmer ein Licht? Großartig! Hast du dafür gesorgt, dass du von irgendwo Geld für deinen Lebensunterhalt bekommst? Gut gemacht! Hast du die Möglichkeit, dir ab und zu eine Tasse Tee zu kochen und vielleicht sogar einen Freund dazu einzuladen? Dann ist dein Heim eines von Licht und Freude.

Hier geht es nicht um das höchste Level dessen was erreichbar ist, sondern um das Gefühl etwas erreicht zu haben, worauf man mit Freude zurückblicken kann. Die scheinbar unwichtigen Dinge sind die Grundlage der Meisterung unseres Lebens, sind ausreichend und echte Errungenschaften. Der Schritt vom Zimmer zur Villa ist unerheblich. Wir wissen, dass sehr reiche Leute mit sehr großen Häusern oft ausgesprochen unglücklich sind. Oder: Mobilität beispielsweise ist hilfreich. Aber der Porsche ist es nicht. Seien wir also einen Moment dankbar für alles, was wir erreicht haben.

Dazu gehört natürlich keineswegs nur Materielles. Auch Wissensinseln oder Bachelor Degrees, oder Kursinhalte. Es ist gut, sich zu vergegenwärtigen, dass man tatsächlich etwas gelernt hat – es innerhalb des fließenden Lebens auch Momente errungener Bildungsabschlüsse gibt. Dabei sind es wie in allen Bereichen wieder nicht ausschließlich die großen Niveaustufen, die uns umtreiben müssen. Hast du dein MSA abgeschlossen? Sehr gut! Vielleicht hast du die Vergangenheitsform des Präteritums in der deutschen Sprache in den Grundzügen verstanden. Oder du hast gelernt, wie man Blut abnimmt, oder du kannst jetzt den Berliner BVG Plan lesen.

Dinge abzuschließen wirkt in unserem Leben salutogenetisch. Der Begriff wurde in den 1970er Jahren von Aaron Antonovsky geprägt und bedeutet, so viel wie „der Gesundheit zuträglich“. Während sich also die Pathogenese damit beschäftigt, wie Krankheiten entstehen, fragt sich die Salutogenese, wie Gesundheit entsteht und was sie aufrecht erhält. Der Gesundheit zuträglich ist neben gesunder Ernährung und Bewegung vor

allem das Gefühl der Kohärenz, also der Empfindung des eigenen Lebens als sinnhaft und als zusammenhängend. Wenn wir die Dinge zu einem guten Abschluss bringen, zu einem guten Ende, an dem wir uns selbst in einem würdevollen Licht betrachten können, so tut uns dies gut, es trägt zur Gesundheit bei.

Vor Jahren las ich in einer Zeitung, dass eine ca. 80 jährige Frau einen Löffel an eine Fluggesellschaft geschickt hat. Sie hatte ihn mehr als zwanzig Jahre zuvor bei einem Flug unauffällig mitgehen lassen. Jedes Mal, wenn sie den Löffel sah, erinnerte sie sich an diesen schamvollen Moment in ihrem Leben. Indem sie den Löffel zurückschickte, konnte sie die Schamhaftigkeit zum Abschluss bringen, war nicht mehr Sklavin ihrer Scham, sondern Handelnde. Handlungsfähigkeit und das Empfinden von Sinn gehen Hand in Hand. Die Sachen regeln, zu einem guten Abschluss bringen, gibt uns Kraft und Sinn.

Manche Dinge lassen sich nur schwer zum Abschluss bringen. Wenn jemand stirbt oder uns verlässt, finden wir manchmal keinen guten Weg aus der Trauer des Verlusts. Besonders schmerzlich ist es, wenn man sich das letzte Mal im Streit getrennt hat, oder man sich noch etwas sagen wollte. Doch wir brauchen den Abschluss, damit wir zurückkommen, zu einem gesunden Leben der Selbstbestimmung. Ein Psychologe schlug kürzlich vor, dass man auch solche Erlebnisse zum Abschluss bringen könne. Das Brennen eines Teelichtes, an einen schönen Ort im Raum gestellt, nehmen wir uns als Zeit mit dieser Person. Ist sie verstorben, so wird sie uns vielleicht jenseits ihrer vergangenen Körperlichkeit als Essenz ihrer Selbst besuchen, also als das, was wir Seele nennen. Ist die Flamme erloschen, so verabschieden wir uns von unserem Schmerz. Nicht von unseren Gedanken an die Person, aber von dem Schmerz der Trauer. Mit dem Erlöschen der Kerze ergibt sich ein Abschluss, den wir brauchen, um weiter voranzugehen und unser Leben zu meistern.

Das Abschließen also, und die Erfahrung von Sinn, sind wichtig für uns. Sinnhaftigkeit bedarf unumgänglich der Zuneigung anderer Lebewesen. Ohne eine Gesellschaft, die bereit ist, uns mit Zuneigung aufzunehmen, uns unsere Fehler immer wieder zu vergeben und uns als wertvollen und wunderbaren Teil der Schöpfung wahrzunehmen, können wir nicht gesund sein. Nicht unsere Seele und nicht unser Körper, in dem sie wohnt. So möchte ich die Khutba abschließen mit den Worten des Propheten Mohameds, der uns erinnert, dass unser Leben einen guten Sinn erhält, wenn wir gut zu anderen sind, denn so weben wir einen Teppich bester Güte.

Allah sagt: Und meine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge (7:156), und wir lesen auch: Gott hat sich selbst die Barmherzigkeit vorgeschrieben (6:54). Der Prophet Mohamed asws erzählte

„Gott, der Hohe und Erhabene, wird am Tage der Auferstehung sagen: O Kind Adams, ich bin krank gewesen, und du hast mich nicht besucht. Er wird sagen: O mein Herr, wie kann ich dich besuchen, wo du doch der Herr der Welten bist? Allah wird sagen: Wusstest du nicht, dass mein Diener krank war, und du hast ihn nicht besucht. Hättest du ihn besucht, hättest du mich bei ihm gefunden; wusstest du es nicht? – O Kind Adams, ich habe dich um etwas zu essen gebeten, und du hast mir nichts zu essen gegeben. Er wird sagen: O mein Herr, wie kann ich dir zu essen geben, wo du doch der Herr der Welten bist? Allah wird sagen: Wusstest du nicht, dass mein Diener dich um etwas zu essen gebeten hat, und du hast ihm nichts zu essen gegeben. Hättest du ihm zu essen gegeben, hättest du mich bei ihm gefunden; wusstest du es nicht? – O Kind Adams, ich habe dich um etwas zu trinken gebeten, und du hast mir nicht zu trinken gegeben. Er wird sagen: O mein Herr, wie kann ich dir zu trinken geben, wo du doch der Herr der Welten bist? Allah wird sagen: Mein Diener hat dich um etwas zu trinken gebeten, und du hast ihm nicht zu trinken gegeben. Hättest du ihm zu trinken gegeben, hättest du mich bei ihm gefunden.

Weben wir unseren Teppich! Gestalten wir unser Jahr! Mit viel Freude und Genuss, Hoffnung und Frieden und der Versorgung all Jener, die uns brauchen!

Ich wünsche euch ein wundervolles Neues Jahr Zweitausendundzwanzig!

وعنه قال قال رسول الله صَلّى اللهُ عَلَيْهِ وسَلَّم : إنَّ الله عزَّ وجل يَقُولُ يَوْمَ القيَامَة : « يَا ابْنَ آدَمَ مَرضْتُ فَلَم تَعُدْني ، قال : ياربِّ كَيْفَ أعُودُكَ وأنْتَ رَبُّ العَالَمين ؟ قال : أمَا عَلْمتَ أنَّ عَبْدي فُلاَناًَ مَرِضَ فَلَمْ تَعُدْهُ ، أمَا عَلمتَ أنَّك لو عُدْته لوجدتني عنده ؟ يا ابن آدم اطعمتك فلم تطعمني ، قال : يا رب كيف أطعمك وأنت رب العالمين ، قال : أما علمت أنه استطعمك عبدي فلان فلم تطعمه أما علمت أنك لو أطعمته لوجدت ذلك عندي ؟ يا ابن آدم استسقيتك فلم تسقني ، قال : يارب كيف اسقيك وأنت رب العالمين ؟ قال : استسقاك عبدي فلان فلم تسقه ، أما علمت أنك لو سقيته لو جدت ذلك عندي ؟ » رواه مسلم .

[ رياض الصالحين ؛ رقم الحديث ٨٩٦ ؛ رقم الكتاب ٧ ؛ رقم الباب ١٤٤ ]

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