Die Seele aus islamischer Sicht

Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen, alles Lob und Dank gebührt Gott, wir preisen Ihn und suchen Hilfe und Vergebung bei Ihm.

Die Seele aus islamischer Sicht

 

Samuel Scrimshaw BeitragsbildHeute möchte ich über unsere Seele sprechen. Ich fand das Thema interessant, aber tat mich dennoch schwer, denn ich habe erkannt, dass unsere Persönlichkeit weit mehr ist als unser materieller Körper. Aber das ‚weit mehr‘ ist schwer zu erfassen.
In Suratu-l-`Isra, 17:85 steht: „Und sie befragen dich über die Seele. Sprich: ‚Die Seele ist eine Angelegenheit meines Herrn; und euch ist vom Wissen nur wenig gegeben.‘“ Muhammad Asad übersetzt den Vers so: „Und sie werden dich nach der Natur der göttlichen Eingebung fragen. Sag: diese Eingebung kommt auf Geheiß meines Erhalters; und ihr könnt ihre Natur nicht verstehen, da euch sehr wenig wahres Wissen gewährt worden ist.“ Asad meint dazu: Einige Kommentatoren sind der Ansicht, dass sich dieses auf die Offenbarung des Koran bezieht, wenn man den vorherigen und folgenden Vers mit einbezieht, andere verstehen darunter die Seele des Menschen. Für noch andere steht der Begriff ‚ruh‘ für Seele oder Geist und sehen darin den Engel, der die Offenbarung bringt.
Ich denke, es geht vor allem um einen harmonischen Zustand der Seele, auch wenn wir nicht viel darüber wissen. Aus theologischer Sicht ist das Wesen der Seele geheimnisvoll und normaler menschlicher Erkenntnis weitgehend nicht begreifbar. Wir können sie nicht wirklich beschreiben oder sehen, so wie wir Gott nicht definieren können und nur das von Ihm wissen, was Er im Koran über sich erzählt. Aber eins steht fest, jeder von uns trägt eine Winzigkeit vom Hauch Gottes in sich, die Seele. Aber dazu komme ich noch.
Suratu-z-Zumar, 39:41 besagt: „Allah nimmt die Seelen (al-anfus, Plural von an-Nafs) hinweg, wenn die Menschen sterben, und die derer, die noch nicht sterben, während sie schlafen. Dann hält Er die zurück, für die Er den Tod bestimmt hat, und schickt die anderen für eine bestimmt Frist zurück. Hierin sind fürwahr Zeichen für Leute, die nachdenken“. Das bedeutet, im Tod geben wir unser physisches Leben auf, aber unsere Seele stirbt nicht, sie kehrt in eine andere Existenzebene, zu Gott zurück, also jenseits unseres physischen Daseins, während sie nach dem Schlaf in unser Dasein zurückkehrt. Kurz gesagt: Gott hält unser Leben und den Tod in Seiner Hand. Wir merken spätestens hier, dass das Wort Seele im Normalgebrauch mehrere Bedeutungen hat.
Wie oft sagt man, wenn man über etwas nachdenkt und man zu keinem richtigen Ergebnis kommt: „Schlaf darüber!“ Oder: „Der Morgen ist klüger als der Abend“. Unsere Seele geht dann zurück zu Gott. Vielleicht gibt uns Gott dann Hinweise? Manchmal wachen wir mit einem Alptraum auf, vielleicht sind diese Alpträume ja schon eine Bestrafung von Gott, und manchmal sind wir frisch und munter, mit einem guten Gefühl, die richtige Entscheidung treffen zu können. Wer weiß, wurden wir vielleicht belohnt? Hält Gott bei unserem Schlaf schon ein Gericht über unsere Seele? Bestraft oder belohnt Er uns, lässt Er uns unser Gewissen überprüfen?
Ich denke, Gott hält hier schon Gericht, nicht erst, wenn es uns nicht mehr gibt. Denn während unseres Schlafs hat Gott die Gelegenheit, zu richten, unserer Seele Lob oder Tadel nach dem Erwachen mit auf den Weg zu geben. Ansonsten lohnt sich doch nicht ein Belohnen im Paradies oder Bestrafen in der Hölle. Nach dem Tod ist es zu spät, um uns zu verbessern.
Ich habe meine Denkweise in meiner Khutba „Das Diesseits und das Jenseits“ schon einmal dargelegt. Und die Brücke am Tag des Jüngsten Gerichts? Für mich könnte für die Seele die Überquerung der Brücke den Übergang vom Wachsein in den Schlaf bedeuten. Wir wachen auf, nachdem sich unsere Seele einer Rechenschaft vor Gott für diese kurze Zeit stellen musste. Und das täglich, damit sich unsere Seele zum Guten wandeln kann. Nur so greift Gottes Barmherzigkeit zur Stärkung unserer Seele, was nicht ausschließt den Gang über die Brücke nach unserem endgültigen Tod.
Ghazali, gest.1111 in Tus, Iran, hielt die Seele für eine unkörperliche, rein spirituelle Substanz, die aber über Wissen und Wahrnehmung verfügt.
Der Mystiker Rumi war überzeugt, dass der Mensch zwei Dimensionen habe: Die eine ist die physische Ebene, die zur Natur gehört und die zweite ist die verborgene Welt als Teil der absoluten Wahrheit. Beide Ebenen passen sich einander an und ergänzen sich.
Aber was ist nun die Seele? Wo befindet sie sich, was passiert mit ihr?
Das Wort rūḥ, das ursprünglich „Atem“ oder „Wind“ bedeutet, wird religiös zum Hauch, Geist, den Gott Adam einbläst und ihm damit Leben einhaucht.
Der Mensch besteht aus Körper, Geist oder Seele, alles gehört zusammen und macht als Ganzes den Menschen aus.
Eigentlich hat im normalen Sprachgebrauch das Wort „Seele“ zwei Bedeutungen:
– Zum ersten gehört die Gesamtheit dessen, was das Fühlen, Empfinden, Erinnern, Phantasieren, Überlegen, Denken eines Menschen ausmacht; also die „menschliche Seele,“ unser Ego, das Ich. Sie ist sterblich.
– Andererseits ist sie ebenso ein körperloser Teil des Menschen, der nach religiösem Glauben unsterblich ist, nach dem Tode weiterlebt. Sie ist „die unsterbliche Seele“. Beide aber sind immateriell.
Eine kurze Zusammenfassung: Es gibt also zwei grundlegende Bereiche des Menschen, einen materiell-physikalischen und einen immateriell-metaphysischen Bereich. Nach islamischer Auffassung gibt es aber im immateriellen Bereich neben der Seele oder Geist noch das Ego des Menschen, dem ‚Ich‘, arabisch an-nafs. Es ist zwar immateriell, aber in besonderer Weise an den Körper gebunden, also an die Materie. Das heißt: Der Mensch besteht aus
– dem Körper, arabisch: al-dschassad,
– dem Ego, das „Ich“, arabisch: an-nafs,
– dem Geist oder Seele arabisch: ar-ruh.
Den Körper kann man also als das ‚Haus von Ego und Seele‘ bezeichnen. Wenn der Körper stirbt, stirbt auch mit ihm sein Ego, (an-nafs), sein Ich. Die Aufgabe eines Muslims soll darin bestehen, im Diesseits im Rahmen des dschihadu-n-nafs, der Anstrengung im Bereich des Egos, seinen Nafs zu erziehen und in ein an Gott gerichtetes Seelenleben zu bringen. Deshalb meine ich, dass schon im Schlaf Gott über uns das Gericht hält, damit wir unseren Nafs erziehen können, daraus ergibt sich für mich: Das Paradies und die Hölle befinden sich im Diesseits.
Im Koran werden drei Stufen des sterblichen nafs erwähnt, manche Gelehrte zählen 7 Stufen: die niedrigste ist an-nafs al- ammara, die über das Böse herrscht, an zweiter Stelle kommt an-nafs al-lawwama, welches sich selbst reumütig tadelt. Man könnte sagen: Es ist unser Gewissen, dass unser Handeln kontrolliert. Und an höchster Stelle steht an-nafs al-mutma`inna, welches seine Ruhe gefunden hat. Dazu steht im Koran in Sure 39:70: „Und jeder Seele (nafs) wird voll zurückerstattet, was sie im Erdenleben getan hat.“ Das heißt, selbst wenn das Nafs stirbt, unsere Taten werden am Gerichtstag gewertet.
Im heutigen Konsum- Zeitalter ist der Körper mit dessen Bedürfnissen, Verlangen und Begierden, die sein Ego zufrieden stellen und ihn zu seiner Selbstentfaltung und Selbstbewusstsein fördern sollen, in den Vordergrund gerückt. Unser Ego schließt ein An-sich-selber-denken, an sein berufliches Vorwärtskommen, am Geldkonsum ein, kümmert sich weniger um die übrige Gesellschaft. Wir sind zu einer Ich-Gesellschaft, weniger zu einer Wir-Gesellschaft geworden. Geist und Seele spielen dabei weniger eine Rolle.

Der Geist, ar-ruh, ist der einzige Bereich, der ewig ist und der beim Tod des Menschen auch sein Ego überdauert. Er gehört zum immateriellen Bereich und damit wichtigster Teil des Menschen aus religiöser Sicht.
Meine Frage an euch: Wenn wir unseren Körper betrachten, wo werden wir die Seele, unseren Geist ansiedeln? Natürlich im Herzen!
Das Zentrum unseres Geistes, unserer Seele ist im Islam das Herz (arab. al-qalb) mit den immateriellen Betrachtungsweisen unserer Gefühlswelt, Emotionen, Empfinden, Gemüt und dazu gehört auch unser Gewissen, Bewusstsein wie zum Beispiel unser Verantwortungsbewusstsein, Moral, unsere innere Stimme.
Unser Herz hat also zwei Seiten oder Bestimmungen: das materielle Herz als unser zentrales Organ des Körpers; ohne diese Pumpe geht gar nichts. Das immaterielle Herz ist das Zentrum unseres Geistes bzw. unserer Seele und damit das wichtigste Element unseres Seins, unserer Wirklichkeit.
In Sura al-A’raf, Nr.7:179 können wir in der Übersetzung von Asad lesen: „Wir haben wahrlich viele der unsichtbaren Wesen und Menschen für die Hölle bestimmt, die Herzen haben, mit denen sie nicht die Wahrheit zu erfassen vermögen, und Augen, mit denen sie nicht zu sehen vermögen, und Ohren, mit denen sie nicht zu hören vermögen. Sie sind wie Vieh – nein, sie sind sich noch weniger des rechten Weges bewusst: Es sind sie, die die wahrhaft Achtlosen sind.“ Er meint damit: Tiere leben nach ihrem Instinkt, aber diese Menschen sind sich der Möglichkeit oder einer Notwendigkeit einer moralischen Wahl nicht bewusst oder wollen es nicht verstehen.
Oder in Sura al- Hadsch, Nr. 22:46: „Sind sie denn niemals auf der Erde herumgereist, um ihr Herz Weisheit erlangen und ihre Ohren hören zu lassen? Doch, wahrlich, es sind nicht ihre Augen, die blind geworden sind – sondern blind geworden sind ihre Herzen, die in ihren Brüsten sind.“ Diese Aussage ist wirklich eindeutig, zum Herz gesellt sich der Verstand, die Vernunft, al-`aql
Herz und Verstand stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Und zum Verstand gehört das Gewissen (arab: al-widschdan) dazu.
Die islamischen Gelehrten ordnen dem Gewissen drei Kategorien zu: das Gedächtnis (arab. adh-dhihn), das Gefühl (arab: al-hiss) und der Wille (arab: al-irada). Aber wie schon gesagt, alle drei stehen in einem besonderen Zusammenspiel mit dem Intellekt (ar: al-`aql), der Vernunft und dem Herzen als das Zentrum des Geistes.
Zum besseren Verständnis: Das Zentrum des Geistes ist das immaterielle Herz (al-qalb). Es beinhaltet den Geist oder Seele (ar-ruh), den Intellekt, die Vernunft (al-`aql) und als dritter Partner das Gewissen (al-widschdan) mit dem Gedächtnis, den Gefühlen und dem Willen.
Besonders das Zusammenspiel von al-`Aql und al-widschdan, Vernunft und Gewissen, spielt im islamischen Kontext eine große Rolle. Das Gedächtnis als eine Kategorie des Gewissens bedeutet Wissenserwerb, besonders das Wissen um Gott. Die Gefühle, eine weitere Kategorie, stehen für die Liebe zu Gott, also das Gottesgedenken und der Wille, als letzte Kategorie, bedeutet Dienst an Gott, also Gottesdienst. Alle zusammen führen zu einem guten Iman, dem Glauben und Taqwa, dem Gottesbewusstsein.
Die Seele oder der Geist soll sich nach den konservativen Predigern ganz auf das Jenseits richten, auf Gott. Aber was ist mit dem Diesseits? Sollen wir den Frohsinn, der Freude wie auch der Traurigkeit, Glück und Kummer, Entspannung und Anspannung, alles das, was das Leben auf der Erde eigentlich ausmacht, in die zweiten Reihe stellen? Nehmen wir aus der 38. Sure as-Sad die beiden Verse 71 und 72: „Denn siehe, dein Erhalter sagte zu den Engeln: ‚Siehe, Ich bin dabei, einen Menschen aus Ton zu erschaffen; und wenn ich ihn vollständig geformt und ihm von Meinem Geiste eingehaucht habe, fallt nieder vor ihm in Niederwerfung.‘“ Gott ehrte ihn damit vor den Engeln trotz ihrer Einwendungen. Er beschenkte Adam und damit der ganzen Menschheit mit dem Einhauchen Seines Geistes. Natürlich gebührt die Anbetung nur Gott allein, aber diese Niederwerfung der Engel vor Adam war ein Zeichen der Ehre und des Respekts.
Gott hat uns durch Adam von Seinem Geist eingehaucht, damit wir uns im Diesseits an Ihn erinnern und uns Seiner immer bewusst sind, also Gottesbewusstsein. Aber zugleich gab Er den Menschen die Freiheit, selbstständig zu denken und zu handeln, im Guten wie im Schlechten, die Freiheit, Seiner zu erinnern oder auch nicht.
Ich meine, damit stehen wir höher als die Engel, die nur das tun, wofür sie geschaffen wurden.
Aber noch etwas Wichtiges hat Gott uns mit dem Einhauchen der Seele mitgegeben, die Neugier, die den Menschen vorwärtstreibt und ihn erst zum Menschen werden ließ.


رَبَّنَا لَا تُزِغْ قُلُوبَنَا بَعْدَ إِذْ هَدَيْتَنَا وَهَبْ
لَنَا مِن لَّدُنكَ رَحْمَةً ۚ إِنَّكَ أَنتَ الْوَهَّابُ

 

Unser Herr, lass unsere Herzen sich nicht von Dir abkehren, nachdem Du uns rechtgeleitet hast. Und schenke uns Barmherzigkeit von Dir, denn Du bist ja wahrlich der unablässig Gebende. (al-`Imran:8)

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