Gemeinschaft im Islam

Gemeinschaft im Islam

Unter der Obhut Allahs, der Göttlichen Barmherzigkeit, der göttlichen allumfassenden Gnade.

Alles Lob gebührt Allah. Wir preisen Gott, wir suchen Gottes Rechtleitung und Gottes Barmherzigkeit. Und wir suchen Zuflucht bei Allah vor unserer Schwäche und vor unseren Fehlern. Wen Allah leitet, den kann niemand in die Irre führen. Und wen Gott in die Irre führt, den kann niemand auf den rechten Weg bringen. Wir bezeugen, dass es niemanden gibt, der unserer Verehrung würdig ist außer Gott, der einen Göttlichkeit, die einzig ist und die keinen neben sich hat. Und wir bezeugen, dass Mohammed der Diener und Gesandte Allahs ist.

„Die Umma ist immer für Dich da, Bruder!“, höre ich immer wieder. „Die Umma sorgt schon für Dich“, hat man mir mehrfach versprochen. Und ich habe auch gelesen: „Die Umma ist die gesamte Gemeinschaft der Muslime.“

Das ist eine tolle Vorstellung: Eine weltweite Community, bestehend aus 1,7 Milliarden Muslimen, in der die Menschen miteinander gut umgehen und füreinander sorgen. Die Idee, dass wir Muslime alle quasi Brüder und Schwestern zueinander sind, ist ungeheuer ansprechend.

Wenn es denn so wäre.

Muslime sind auch nur Menschen, und als solche gab und gibt es unter ihnen jede Menge Zwist und Auseinandersetzungen und Streit und Ärger und auch Krieg. In Dutzende und Aberdutzende einzelne Strömungen, Rechtsschulen und Gruppen haben sich die Muslime seit dem Tod des Propheten Mohammed (Friede sei auf ihm) zerstritten. Von einer einzigen Gemeinschaft, einer einzigen Umma, fehlt scheinbar jede Spur.

Wir als Gemeinde der Ibn Rushd-Goethe Moschee merken das ganz besonders. Zustimmung oder Kritik an unserem Wirken kommt aus den unterschiedlichsten Lagern und Gruppierungen, die sich teilweise auch nicht einig sind über ihre Positionen und Ansichten.

All das hat mich bewogen, mich einmal näher mit der Idee von Gemeinschaft und Gemeinschaften im Islam zu beschäftigen.

Zu Zeiten des Propheten Mohammed gab es verschiedene Vorstellungen von der „Umma“, einem Begriff, den wir üblicherweise mit „Gemeinschaft“ übersetzen.

Er bezeichnete Gruppen von Menschen, die aufgrund einer Gemeinsamkeit zusammengehörten. Der Qur’an nimmt Bezug auf verschiedene Gemeinschaften, so auch zum Beispiel die der Christen, aber auch solche der Tiere und der Dschinn.

In Medina wurde der Begriff für die Anhänger Mohammeds aus Mekka und Medina und die mit ihnen verbündeten Clan-Gruppen verwendet. Mohammed schloss nach seiner Ankunft in Medina im Jahr 622 einen Bündnisvertrag zwischen den Auswanderern aus Mekka und seinen medinensischen Unterstützern, in den dann auch verschiedene jüdische Stämme integriert wurden. Dieser „Verfassung von Medina“ wird auch gern als „Gemeindeordnung von Medina“ bezeichnet. Am Beginn dieses Vertrags wird festgestellt, dass „die Gläubigen und Muslime der Quraisch und von Yathrib (also Medina) und jene, die ihnen folgen, mit ihnen verbunden sind und zusammen mit ihnen kämpfen“ und damit, dass sie eine „einzige Umma“ (umma wāida) bilden.

Der Vertrag schloss also jüdische Clan-Gruppen ein. Der Begriff „Umma“ war daher seinerzeit kein rein religiös festgelegter. Das kam dann erst später im Laufe der islamischen Geschichte und inzwischen hat „Umma“ auf der arabischen Halbinsel sogar auch einen arabisch-nationalen Charakter unabhängig vom Islam als Weltreligion.

In Deutschland wird „die Umma“ – so mein persönlicher Eindruck – als idealisierte Gesamtgruppe muslimischer Menschen empfunden, zu der man* als Muslim*in eine Zugehörigkeit und Aufgehobenheit fühlen sollte, der man* aber auch zu Konformität verpflichtet ist. Die Regeln dieser „Umma“ werden sichtlich als die religiösen Regeln des Islam plus der traditionellen Auslegung der hier ansässigen Muslime empfunden.

Die Idee einer „Umma“ als Bürgergemeinschaft empfinde ich persönlich jedoch als viel ansprechender – auch und gerade in Hinblick auf Mohammeds Verfassung von Medina. Das Miteinander der Menschen unabhängig von Religionszugehörigkeit und kulturellen Wurzeln entspricht meiner aktuellen Lebensrealität, sowohl politisch wie gesamtgesellschaftlich. Eine Gemeinschaft, die der es um Menschen und ihre Teilhabe an der Gesellschaft geht, jenseits von Glauben und anderen Dingen. Ein diverses, plurales und demokratisches Miteinander. Ja, das ist eine schöne Vorstellung.

Dazu erfordert es die stetige Integration des einzelnen Menschen in die Gemeinschaft. Wie in einer Liebesbeziehung mögen wir also Kompromisse schließen, Meinungen austauschen und Mehrheitsentscheidungen treffen. Dabei wollen wir natürlich einander zugewandt sein, freundschaftlich und interessiert.

Aber die Realität ist anders. Genauso wie sich die ursprüngliche islamische Community in sprichwörtliche 73 Gruppierungen zerteilt hat, ist auch die Lage in der deutschen Gesellschaft in einzelne Lager und Parteien und Bewegungen getrennt. Und ebenso wie die islamische Welt ist unsere deutsche Gesellschaft in dieser Trennung eben nicht einander zugewandt, freundschaftlich und interessiert. Sondern einander abgewandt, unfreundlich, fixiert auf Kontrolle und Macht und Einfluss und die Manipulation anderer Menschen.

All dies passiert üblicherweise in Abhängigkeit von Vordenkern – Menschen, die „den Kurs angeben“ und denen dann Mitglieder einer Gruppe folgen, meist nicht hinterfragend und nicht kritisch und nicht überlegend. Sowohl in der deutschen Gesellschaft wie in der „islamischen Gemeinschaft“ herrscht weitgehend eine „Leithammelkultur“ vor. Und darin integrierte Gruppen antizipieren jeweils, dass die Gefolgschaft der Vordenker auf jeden Fall konform mit ihren jeweiligen Anführern sind, genauso denken wie sie. Und weil die Positionen der Vordenker bzw. Gruppierungen sich teilweise stark unterscheiden, kommt gar nicht die Idee auf, sich miteinander als eine Gemeinschaft zu empfinden.

Im Internet habe ich vor ein paar Tagen einen Spruch gefunden. Ich finde ihn spannend, wenn ich auch nicht weiß, von wem oder aus welcher Quelle er ursprünglich stammt.

Er lautet:

„Du kannst nicht erwarten, auf dem richtigen Weg zu bleiben, wenn du ihn mit den falschen Leuten gehst. Wahre Freundschaft gibt es nicht auf dem Weg nach Dschahannam.“

Der Begriff „Dschahannam“ ist die koranarabische Bezeichnung für die Hölle.

Der Spruch lautet also:

„Du kannst nicht erwarten, auf dem richtigen Weg zu bleiben, wenn du ihn mit den falschen Leuten gehst. Wahre Freundschaft gibt es nicht, wenn man sich auf dem Weg zur Hölle befindet.“

Im Sufismus, der mystischen Ausprägung des Islams, ist die Hölle der Ausdruck und die Manifestation der Entfernung zu Allah. Je weiter man sich von Allah entfernt, desto stärker ist man bereits zu Lebzeiten bestraft, denn die größte Strafe sei es, fern von Allah zu sein. Jene, die der Hölle sind, sind also bestraft durch ihre Gefangenschaft im eigenen Ego und der Illusion, von Allah getrennt zu sein.

Warum erzähle ich das jetzt, wo es eben doch noch um die islamische Umma und die deutsche Gesellschaft ging?

„Du kannst nicht erwarten, auf dem richtigen Weg zu bleiben, wenn du ihn mit den falschen Leuten gehst. Wahre Freundschaft gibt es nicht, wenn man sich auf dem Weg fort von Allah befindet.“

Allah hat seinerzeit Mohammed inspiriert, in Medina eine Gemeinschaft größer als eine Religion zu bilden. Im Qur’an finden sich viele Verse, die das Leben dieser Gemeinschaft regeln sollten.

Wie ich in meiner letzten Predigt erwähnte, bietet Gott seine Rechtleitung allen Menschen, auch Nicht-Muslimen an.

In Sure 2, Vers 185 sagt Allah:

„Der Monat Ramaḍān (ist es), in dem der Qurʾān als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist und als klare Beweise der Rechtleitung und der Unterscheidung.“

Für alle Menschen.

Für mich ist das die Aufforderung, eine gemeinsame Umma zu pflegen. Eine Gemeinschaft zu fördern, in der alle Menschen sich miteinander spirituell weiter entwickeln, unabhängig von Religionszugehörigkeiten oder politischen Ansichten.

Das klingt vielleicht ein bisschen wie Science-Fiction, oder wie die Ansichten von Hippies.

Aber das Motto der Ahmadiyya bringt es durchaus auf den Punkt:

„Liebe für Alle, Hass für Keinen.“

Der Prophet Jesus (Friede sei auf ihm) rief zur personellen Nächstenliebe auf.

Mohammed setzte diese Idee für eine Gemeinschaft um. Die Idee, eine Gruppe von Menschen anzuleiten, verträglich miteinander umzugehen, ist aus meiner Sicht ein klarer Auftrag an uns Muslime.

In Sure 21, Vers 92 sagt Allah:

„Gewiss, diese ist eure Gemeinschaft, eine einzige Gemeinschaft, und Ich bin euer Herr; so dient Mir!“

In Sura 49, Verse 10 bis 12 sagt Allah:

„Die Gläubigen sind Brüder; so stiftet Frieden unter euren Brüdern und fürchtet Allah, vielleicht findet ihr Barmherzigkeit.“

„Oh die ihr glaubt, die einen sollen nicht über die anderen spotten, vielleicht sind eben diese besser als sie. Auch sollen nicht Frauen über andere Frauen (spotten), vielleicht sind eben diese besser als sie. Und beleidigt euch nicht gegenseitig durch Gesten und bewerft euch nicht gegenseitig mit (hässlichen) Beinamen. Wie schlimm ist die Bezeichnung „Frevel“ nach (der Bezeichnung) „Glaube“! Und wer nicht bereut, das sind die Ungerechten.“

„Oh die ihr glaubt, meidet viel von den Mutmaßungen; gewiss, manche Mutmaßung ist Sünde. Und sucht nicht (andere) auszukundschaften und führt nicht üble Nachrede übereinander. Möchte denn einer von euch gern das Fleisch seines Bruders, wenn er tot sei, essen? Es wäre euch doch zuwider. Fürchtet Allah. Gewiss, Allah ist Reue-Annehmend und Barmherzig.“

In Sure 2, Vers 143 sagt Allah:

„Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht, damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der Gesandte über euch Zeuge sei. Wir hatten die Gebetsrichtung, die du einhieltest, nur bestimmt, um zu wissen, wer dem Gesandten folgt und wer sich auf den Fersen umkehrt. Und es ist wahrlich schwer außer für diejenigen, die Allah rechtgeleitet hat. Aber Allah lässt nicht zu, dass euer Glaube verlorengeht. Allah ist zu den Menschen wahrlich Gnädig, Barmherzig.“

Und natürlich sagt Allah in Sure 5, Vers 48:

„Und Wir haben zu dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, das zu bestätigen, was von dem Buch vor ihm (offenbart) war, und als Wächter darüber. So richte zwischen ihnen nach dem, was Allah (als Offenbarung) herabgesandt hat, und folge nicht ihren Neigungen entgegen dem, was dir von der Wahrheit zugekommen ist. Für jeden von euch haben Wir ein Gesetz und einen deutlichen Weg festgelegt. Und wenn Allah wollte, hätte Er euch wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber (es ist so,) damit Er euch in dem, was Er euch gegeben hat, prüfe. So wetteifert nach den guten Dingen! Zu Allah wird euer aller Rückkehr sein, und dann wird Er euch kundtun, worüber ihr uneinig zu sein pflegtet.“

Liebe Gemeinde, liebe Gemeinschaft, Allah zeigt uns klar auf, was unser Auftrag ist.

Wir sollen verstehen, dass die Menschen – egal welcher Religion oder Kultur oder politischen Einstellung sie angehören – alle miteinander verbunden sind. Wir alle sind Gottes Kinder. Wir alle haben eine Verantwortung. Eine Verpflichtung gegenüber einer weltweiten Gemeinschaft, einer globalen „Umma“.

Wir sind dazu aufgefordert, unsere Umwelt und Natur gut zu behandeln. Also müssen wir aufstehen und den Leithammeln klar machen, dass die globale Erwärmung existiert und uns alle bedroht.

Wir sind dazu aufgefordert, Frieden zu schaffen, im Kleinen wie im Großen. Also müssen wir aufstehen und die Fehler der Leithammel benennen, die Krieg und Leid auf andere Menschen bringen.

Wir sind dazu aufgefordert, einander mit Respekt und ohne Hass zu begegnen. Also müssen wir aufstehen und den Leithammeln klar machen, dass Respektlosigkeit und Unfreundlichkeit kein gedeihliches Miteinander hervorbringen kann.

Das sind große Worte. Das ist überwältigend.

Aber wo das Bewusstsein ist, liegt die Verantwortung.

Wir sind als Moschee eine gemeinnützige Organisation, also darauf ausgelegt, der Gemeinschaft zu nützen und zu helfen. Für mich ist das klar eine Gemeinschaft aller Menschen.

Allah sagt in Sure 42, Vers 23:

„Das ist die frohe Botschaft, die Allah Seinen Dienern, die glauben und rechtschaffene Werke tun, verkündet. Sag: Ich verlange von euch keinen Lohn dafür, es sei denn die Liebe wie zu den Verwandten. Und wer ein gutes Werk tut, dem schenken Wir dafür noch mehr Gutes. Gewiss, Allah ist Allvergebend und stets zu Dank bereit.“

Unter all dieser Rechtleitung will ich den Sinnspruch, den ich fand, also neu formulieren:

„Wir werden nicht auf dem richtigen Weg bleiben, wenn wir ihn mit den Leithammeln gehen, die nur an ihr Ego denken und nicht an die Gemeinschaft. Wahre Freundschaft gibt es, wenn man sich zusammen auf dem Weg hin zu Gott und zu gemeinsamer spiritueller Entwicklung befindet.“

Alles Lob gebührt Gott, der Göttlichen Erhabenheit, dem Oberhaupt aller Welten. Wir danken Allah für die allgegenwärtige Gnade und Gaben und wir bitten Allah um Hilfe und Rechtleitung in allem, was wir tun, und hoffen, dass wir die Göttliche Gunst empfangen werden. Der Göttliche Frieden und Segen sei mit Euch allen Menschen.

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