Geduld

19.02.2021

Geduld

Die Sure Al Asr habe ich schon ziemlich häufig rezitiert, denn sie ist nicht nur schön und trostreich sondern birgt viele Aspekte in sich, die zu einem erfüllten Leben beitragen. Und das in nur wenigen, aber sehr schönen Worten.
Auf Deutsch heißt es ungefähr
Bei der Vergänglichkeit unserer Frist, wahrlich, die Menschheit ist in großem Verlust. Außer jenen die beten und gute Werke tun, die sich beraten über die Gesetzmäßigkeiten und sich beraten in der Geduld.

Beraten wir uns also heute in der Geduld und werfen einen Blick darauf, ob sie tatsächlich immer so gut und hilfreich ist, und was dazu gehört, damit sie Früchte trägt. Denn die Geduld hat so einige Synonyme – gute wie schlechte – und sie hat ihre Grenzen. Zu den guten Synonymen gehören Ausdauer, Duldsamkeit und Nachsicht. Das Ausharren gehört zur Geduld, aber auch die Beharrlichkeit. Ein trauriges fast Synonym ist die Resignation, das bittere Pendant zur angemessenen Beharrlichkeit ist die Verbissenheit. So sieht man schon an den sie umgebenden Worten, dass die Geduld eine wunderbare Tugend sein kann, die uns durch schlechte Zeiten rettet, aber auch etwas Störendes, für uns selbst und Andere, das es zu überwinden gilt. Es ist ein Missverständnis zu denken, wir sollen uns unhinterfragt zur Geduld anhalten. Vielmehr sollen wir uns darüber beraten, wann wir geduldig sein müssen, worin die Geduld besteht und wann sie ein Ende haben soll.
Manche von euch werden diese Geschichte kennen:
In einem Gebirge weit von hier lebte ein alter Mann mit seinem erwachsenen Sohn. Die Beiden lebten sehr einfach und kamen mit dem Wenigen aus, was ihnen von Gott zugeteilt worden war.
Eines Tages holte der junge Mann mit einem Eimer Wasser aus der Quelle, als ihm ein Pferd zulief. Das Pferd blieb bei dem alten Mann und seinem Sohn.
Als dies der Nachbar sah, sagte er zu dem alten Mann: „Ich gratuliere dir! Es freut mich, dass du nun ein Pferd hast. Welch ein Glück!“
Der alte Mann antwortete: „Es ist nicht gut und nicht schlecht“.

Es dauerte nicht lange, da lief das Pferd fort. Und wieder kam der Nachbar zum alten Mann. Diesmal sprach er: „Ich bedaure, dass das Pferd fortgelaufen ist. Es tut mir leid für dich. Welch ein Unglück!“
Der alte Mann erwiderte: „Es ist nicht gut und nicht schlecht“.
Es gingen einige Wochen ins Land, da kehrte das Pferd zurück; doch diesmal war es nicht allein, sondern mit seiner ganzen Herde. Sie alle kamen zum alten Mann und seinem Sohn und blieben nun dort.
Erneut kam der Nachbar und gratulierte mit viel ehrlicher Freude. Wie wunderbar des Mannes Schicksal doch sei. Der alte Mann erwiderte, was er schon zuvor gesagt hatte, es sei nicht gut und nicht schlecht.
Der junge Mann begann nun, die Pferde eines nach dem anderen zuzureiten. Bei manchen war es schnell vollbracht. Bei anderen dauerte es seine Zeit und Mühe, bis sie zahm und reitbar waren. Eines der Pferde war besonders schwer zuzureiten. Als der Mann aufsaß sträubte es sich und buckelte so unglücklich, dass es den Mann dabei abwarf. Er fiel auf den harten Boden und brach sich ein Bein.
„Ach“, rief der Nachbar, der ihm von weitem zugeschaut hatte, „du Unglücklicher!“
„Es ist nicht gut und nicht schlecht“, murmelte der alte Mann vor sich hin, während er das Bein seines Sohnes versorgte. Die Heilung schritt nur langsam voran.

Eines Tages hörten die Männer die Trompeten des Königs. Seine Boten waren gekommen, um auszurichten, dass er einen Krieg kämpfen wolle, gegen ein benachbartes Volk. Alle jungen Männer brauchte er dafür – alle diejenigen, welche gesundheitlich in der Lage waren, zu kämpfen, zu töten und sich töten zu lassen. Auch im Gebirge sollten gleich alle jungen Männer eingesammelt werden. So kamen sie auch zum Haus der beiden Männer.
Das Bein des jungen Reiters indessen war nicht nur gebrochen. Fast sah es aus, als wollte es für immer unbeweglich bleiben. Dessen gewahr, zogen die Boten wieder davon, ohne den jungen Mann weiter als Kämpfer in Betracht zu ziehen.

Die Geschichte kommt nicht aus der islamischen Tradition. Ich weiß nicht, wo sie genau herkommt, aber ihre Essenz finden wir auch im Koran. Sie handelt von der Ergebenheit in unser Schicksal und davon, dass wir es stets bewerten wollen, ohne doch zu wissen, ob es gut für uns ist, oder schlecht. Das Leitwort ist daher die Geduld. Alsabr.
Geduld brauche ich nicht im Lexikon nachzuschlagen. Wir alle haben ein Gefühl dafür was das ist. Ich nenne es die Fähigkeit, einen Zustand auszuhalten, den man sich so nicht wünscht. Geduldig etwas hinzunehmen und dennoch ein froher und glücklicher Mensch zu sein ist eine große Kunst. Sie wird im Koran sehr häufig erwähnt und liegt nah an der Gottergebenheit.
Al Imran 139 – und seid nicht verzagt und traurig
Al Imran 200 – wetteifert in Geduld
Die Belohnung jener, die geduldig sind, wird verdoppelt.

Doch schaut was passiert, wenn man zur falschen Zeit geduldig ist. Legt man einen dicken Holzklotz in einen Ofen, und legt ein Streichholz dazu, so wird es unter Umständen nicht nur sehr lange dauern, bis sein Feuer heiß lodert und Wärme spendet. Nein, er wird überhaupt nicht Feuer fangen. Egal wie lange man sich geduldig davor setzt, und auf Wärme hofft, Geduld hilft hier überhaupt gar nicht. Stattdessen wird der Holzklotz bestenfalls leise vor sich hin kokeln bis das schwarze, verkokelte Holz nutzlos geworden ist. Es hat dem Verbrennungsprozess äußerlich standgehalten, ist nicht unter der Erzeugung großer Flammen und damit einhergehender Wärme verbrannt, und hat uns somit auch nichts Gutes getan.
Besser ist es, aktiv zu werden, das Holz zu spalten, in viele kleinere Stücke. Diese legt man ins Feuer, drum herum Zeitungspapier und dünnen Reisig. Das alles zündet man an und schon bald lodert ein Feuer heiß auf und spendet Wärme und Kraft.
So braucht unser Leben manchmal nicht Geduld sondern eine klare Haltung, aktive Auseinandersetzung und Verantwortungsübernahme für das eigene Leben und manchmal auch für das Leben anderer. Das Holz geduldig zu betrachten hilft keinem, der friert. Die Axt in die Hand zu nehmen, auch wenn sie schwer ist, und es zu spalten, gibt doppelt Wärme, einmal bei der Arbeit und ein weiteres Mal bei der Belohnung dafür.

Beim Thema Geduld denke ich an eine Begebenheit vor nicht allzu langer Zeit. Eine junge Frau kam in unsere Moschee und erzählte ein wenig von ihrer Situation. Die Schwestern ihrer eigentlichen Moschee hätten sie zur Geduld gemahnt, denn sie wolle sich von ihrem Mann trennen, konnte jedoch nicht beweisen, dass ihr Mann, dessen vierte Frau sie war, sie in der Ehe brutal missbrauchte. Was uns die studierte, intelligente, junge Frau mit einem Lächen auf den Lippen erzählte, zog uns geradezu die Schuhe aus und kann hier nicht wiedergegeben werden. Mit welchem Recht, eigentlich, mit welcher Unverfrorenheit, kann jemand eine so verletzte Person zu noch mehr Geduld anhalten? Zu ihrem eigenen Schutz sollte sie eigentlich sofort ihre sieben Sachen packen und das Haus verlassen, irgendwohin, wo sie nicht gefunden werden kann. Stattdessen mahnte man sie zur Geduld, weil es Gott im Koran so fordere. Und sie selbst schien auch in diesem Denken gefangen zu sein. Nirgends – mind you – nirgends steht so etwas. Und wenn so etwas da irgenwo stehen würde, dann könnte es nicht richtig sein, wäre wohl die Übersetzung falsch, oder unser Verständnis davon, denn im Koran sind alle Menschen Bani Adam – Kinder von Adam – und alle sind mit derselben Würde ausgestattet. Und weiterhin steht darin, wenn wir einen Menschen töten ist es, als hätten wir die ganze Menschheit getötet. Und da steht nicht, wenn wir den Körper eines Menschen töten. Die Seele ist auch der Mensch.
Zur Geduld gehören also zwei Dinge, zum Einen das Aushalten. Es ist durchaus manchmal nicht anders möglich, das Leben zu bewältigen. Manche Dinge wollen oder müssen in der Tat geduldig ertragen werden.
Das zweite ist ein deutliches Gefühl dafür zu haben, wann die Geduld ein Ende haben muss.

Dass die junge Frau die Stelle nicht fand, an der sie gehen musste, ist tief im Grunde eigentlich ein Problem der Liebe. Nicht eines der romantischen, der Liebe zu einem Partner, sondern eines der Selbstliebe. Der Selbstliebe und Selbstachtung und darüber hinaus der Sicherheit, dass sie auch von anderen geliebt wird.
Wenn sie sich selbst lieben würde und sich der Liebe anderer vollkommen bewusst wäre, könnte sie nämlich sagen, dass sie nun leider gehen müsse, damit sie sich um sich selbst kümmern kann. Dass sie auch keinem Rechenschaft schulde, da sie genau so viel Wert sei, wie der Mann, den sie nun verlassen müsse, und diesen Wert nun einklage.
Es ist eines der großen Themen unserer Zeit, unsere Unfähigkeit, uns selbst zu lieben, und stattdessen schambelastet und unterwürfig durch das Leben zu gehen. Es stiehlt uns geradeheraus die Lebensfreude.
Ich kenne viele solcher Beispiele, in denen die Selbstliebe , nicht die egoistische Selbstverliebtheit, sondern die Selbstachtung, zu den besseren Entscheidungen führen würde. Doch auch hierfür schämen wir uns, meinen, uns selbst zu lieben wäre anmaßend, egozentrisch. Die Liebe zu anderen Menschen hingegen halten wir für normal und erstrebenswert.
Im Koran lesen wir: Messt mit demselben Maß für euch und andere. Macht das Maß also nicht schlechter für die anderen, als für euch selbst. Doch das gilt auch im Umkehrschluss: Macht das Maß nicht schlechter für euch als für andere.
Krankheiten oder andere Unwägsamkeiten in Geduld zu ertragen ist in der Tat eine Tugend. Uns hilft eine liebende Gemeinschaft, ein freundliches Wort eines netten Menschen, und wir sind angehalten, uns gegenseitig zu unterstützen, wenn wir Dinge im Leben nicht ertragen. Es ist Kennzeichen der muslimischen Gemeinschaft, sich in Geduld zu üben und Gott zu danken, auch wenn es nicht immer so läuft, wie wir es gerne hätten. Alhamdullilah auch dort, wo es nicht so geschieht, wie wir es gerne hätten.
Als ich vor einiger Zeit eine schwierige medizinische Untersuchung über mich ergehen lassen musste, halfen mir die Worte eines Freundes, der zuvor immer wieder gesagt hatte: Du bist stark. Du schaffst das. Als die Untersuchung sehr unangenehm wurde, hörte ich die Worte in meinem Inneren. „Du bist stark.“ Es half, die Situation geduldig zu überstehen.

Und zugleich gibt es andere Zeiten, in denen die Geduld ein Ende haben darf oder soll. Es ist uns ein Zeichen der Anerkennung Gottes, wenn wir uns bewusst werden: Gott liebt auch uns. Wir sind nicht weniger Wert, als die anderen, mit denen und für die wir leben, die wir schätzen und lieben; und das kann eben auch bedeuten die Axt in die Hand zu nehmen, um das Holz zu spalten, und uns an den vielen kleinen Feuern zu erfreuen, die uns dann Wärme spenden, Licht und Kraft.
Ich wünsche uns allen ein endloses Maß an Geduld, dort, wo sie unvermeidlich ist, und ein gutes Gefühl dafür, sie zu beenden, dort wo es nötig ist.

Die Predigt wurde aus Datenschutzrechtlichengründen an einigen Stellen gekürzt. Wir danken für Ihr Verständnis

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