Das Diesseits und das Jenseits

Das Diesseits und das Jenseits

 

Kyler Trautner

Das Diesseits ist ja jedem bekannt, darum beginne ich gleich mit dem Jenseits. Im Deutschen entspricht das Wort ‚Jenseits‘ im Koran dem arabischen Wort „Akhira“, was wörtlich „Letztes“ bedeutet, im Sinne einer endgültig letzten Station auf unserer Lebensreise. Diese Reise endet nach dem Gericht vor Gott für die Einen mit der Überbrückung in das viel gelobte Land, dem Paradies, während die Anderen den Übergang über die Brücke nicht schaffen und in die Tiefe fallen, der Hölle.

In Sure 5:69 steht dazu: „Wahrlich, jene, die Glauben erlangt haben, wie auch jene, die dem jüdischen Glauben folgen, und die Sabier und die Christen – alle, die an Gott und den Letzten Tag glauben und rechtschaffene Taten tun, – keine Furcht brauchen sie zu haben noch sollen sie bekümmert sein.“

Nach islamischer Auffassung soll das Leben im Diesseits einer Prüfung gleichkommen. Eine Prüfung als eine Wertung jedes Menschen hinsichtlich seines Glaubens und seiner Handlungen, die Gott erst beim Jüngsten Gericht vollzieht. Die viel Gutes vorzuweisen haben, kommen ins Paradies, der Dschanna, die anderen in die Hölle, Dschahannam. Dschanna verheißt Bäume mit wohlschmeckenden Früchten und kühlen Schatten, frisches Wasser, ein tolles Ruhelager. Dschahannam verspricht Höllenqualen, brennendes Feuer statt Wasser. Dschanna verspricht vor allem das, was im Diesseits verboten ist: Man darf köstlichen Wein trinken und es gibt ‚Frauen mit schönen Augen‘, zu finden in Sure 56: 22-24: „Und bei ihnen werden sein ihre reinen Gefährten von schönstem Auge, gleich noch in ihren Muscheln verborgenen Perlen. Und dies wird sein eine Belohnung für das, was sie im Leben taten.“

Die Vorstellungen vom Paradies widerspiegeln viel vom Leben auf der Erde, aber wahrscheinlich gilt das nur für Männer, so wie ihre Sexfantasien mit den 72 Huris, die für sie bereitstehen. Und was ist mit den Frauen, wie sieht ihr Paradies aus? Ich habe nur gefunden, wie die Frau ins Paradies kommen kann. In Sure An–Nisa, Vers 124 steht: „Und wer vom gottgefällig Guten tut, ob Mann oder Frau, und Mumin ist, diese werden in das Paradies eintreten und nicht das Geringste an Unrecht erleiden.“

Ansonsten behauptet man einfach, dass jede Anrede im Koran, die sich an Männer richtet, ebenfalls eine Anrede für Frauen sein soll. Alle Vorschriften, die sich an Männer richten, gelten auch an Frauen. Ja, man kann es sich auch leicht machen mit Erklärungen.

Nasr Hamid Abu Zaid meint zum Vers 6 in der Sure 39: „Er hat geschaffen euch aus einer einzigen Seele, aus der Er machte ihr Gepaartes.“ Der Begriff: „ihr Gepaartes – Zaudschaha“ verweist auf kein bestimmtes Geschlecht. In der islamischen Schöpfungsgeschichte sind beide Geschlechter gleichgestellt. Auch wenn im Koran der Name ‚Adam‘ fällt, steht er nicht für einen bestimmten Mann, sondern stellvertretend für das Menschengeschlecht.

Aber will ich wirklich nur ein schönes Leben ohne Sinn haben, nur auf Kissen ruhen, Wasser und Wein trinken, und das für alle Ewigkeit, nachdem ich im Diesseits mich doch relativ aktiv beschäftigt habe? Vielleicht war das für die Vorfahren das Schönste und Beste, nach ihrer schweren Mühsal des Lebens, sich einfach nur ausruhen zu wollen.

So wie der Koran das Paradies einem Garten gleich schildert, in dem Bäche voller Wasser, Milch und auch Wein gibt, der ja im Diesseits verboten ist, so kennen die Christen das Bild von Eden. Auch dort ist Honig und Wein in Überfluss. Und natürlich gibt es für sie auch die Hölle. Die Hölle ist nach der traditionellen christlichen Vorstellung ein Ort der Qual, an dem die Übeltäter nach dem Tod gelangen, bevölkert von Dämonen und dem Teufel.

In den jüdischen apokryptischen Schriften, im Buch Henoch wird berichtet, dass es als Aufenthaltsort der Verstorbenen vier tiefe Hohlräume gibt, drei sind dunkel und nur einer hell. Man kann schon an der Verteilung erkennen, dass die Sünder höchstwahrscheinlich in Überzahl sind. Für sie gilt: „Entsprechend der Taten der Bösen werden sie in lodernden Flammen brennen, schlimmer als Feuer,“ und „niemand wird ihnen helfen.“

Aber anders als im Judentum dürfen die Muslime, die auf Grund ihrer Verfehlungen das Gericht nicht bestanden haben, jedoch darauf hoffen, nach einer bestimmten Zeit, die sie als Strafe in der Hölle verbringen müssen, doch noch ins Paradies eintreten. Denn Gott ist ja allvergebend.

Wir wissen von keiner Anzahl der Stufen und Ebenen im Paradies und in der Hölle, jedoch wird in den Hadithen als höchste Stufe des Paradieses ‚al-Firdaus‘ genannt.

Der Koran ist voll von Parabeln, Gleichnisse, Allegorien. So könnte meiner Meinung nach Gott auch Berichte über die Hölle und das Paradies verwendet haben, um die Menschen schon im Diesseits im Guten zu erziehen. Das sagt auch die Sure 13:35 aus: „Das Gleichnis des Paradieses, dass jenen versprochen ist, die sich Gottes bewusst sind, ist das eines Gartens, durch den Wasserläufe fließen, seine Früchte werden immerwährend sein, und so wird sein Schatten sein. Das wird das Schicksal jener sein, die sich Gottes bewusst bleiben – geradeso, wie das Schicksal jener, welche die Wahrheit leugnen, das Feuer sein wird.“

Muhammad Asad meint als ‚Schatten‘ Gottes das Geschenk der Glückseligkeit. Er sagt weiter: „Diese Passage ist eine gleichnishafte Illustration, etwas, was wir aus unserer Erfahrung kennen, aber scheinbar jenseits unserer Reichweite unserer Wahrnehmung ist. Es hat reine allegorische Bedeutung. Was den Begriff ‚Gleichnis‘ angeht, so soll er zweifellos jenen, die den Koran lesen oder hören, nahelegen, dass seine Beschreibungen des Lebens im Jenseits rein allegorisch sind.“

Viele Muslime tragen sich mit der Hoffnung, Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen zu dürfen. Das deutet der Koran in Sure 75, Vers 22-23 an: „An jenem Tag gibt es strahlende Gesichter, die zu ihrem Herrn schauen.“ Wie geht das, wenn Gott nicht in unserem Zeit-Raum-Continuum ist? Oder befindet sich das Jenseits mit den unterschiedlichen Stufen des Paradieses und der Hölle außerhalb von Zeit und Raum? Vielleicht finden wir deshalb diese Orte nicht.

Aber wie kommen wir zu Gott? Über die Brücke, as-Sirat genannt. As-Sirāt bedeutet arabisch ‚Weg, Pfad, Straße‘ und stellt eine Brücke dar, die von den Verstorbenen überquert werden muss, um in das Paradies zu gelangen. Im Internet steht darüber: ‚Die Brücke ist dünn wie ein Haar und unter ihr befindet sich der Abgrund zur Hölle. Wer kein Vertrauen in Gott hat, wird zögern und wanken und daraufhin von der Brücke fallen. Wer Gott vertraut und wem die schlechten Taten vergeben werden, kann die Brücke überqueren.‘

Und dann ab ins Paradies! Ich finde, jeder hat die Chance ins Paradies zu kommen, auch der Atheist, denn Gott wendet sich im Diesseits immer an alle Menschen. Erst Sein Gericht entscheidet dann Zugunsten oder zu Ungunsten jedes Einzelnen. Die Brücke ins Paradies, das ist der Draht, meine gute oder schlechte Verbindung zu Gott.

Das Paradies ist eigentlich für jeden Gläubigen das Sinnbild für die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, nach genügend Essen und Trinken in einer Welt des täglichen Kampfes um das Überleben. Das Jenseits als Hoffnung auf ein besseres Leben durchzieht den ganzen Koran, der eine Richtschnur für das Leben jedes einzelnen Gläubigen im Diesseits sein sollte, aber kein Instrumentalisierungsmittel in der Hand der Orthodoxen.

Nachdem uns Gott immer wieder ermahnt, Wissen zu sammeln, tätig zu sein, Gutes zu tun, kann es nicht sein, dass wir im Paradies untätig auf seidenen Kissen ruhen und nichts tun außer den Mund aufzumachen, Früchte in den Mund fallen lassen und Wein trinken, was vorher verpönt war.

Gott verwendet im Koran immer wieder Vergleiche, Parabeln, so können auch die Berichte von der Hölle und dem Paradies einfach nur Vergleiche sein, um den Menschen schon im Diesseits zu läutern.

Vielleicht sieht man sich im Traum oder in Gedanken, also noch hier auf Erden, mit den Qualen der Hölle konfrontiert. Oder man hat in einer Situation außerordentliche Angst, dass etwas Schreckliches passieren könnte und man nimmt sich dann vor, in dieser besonderen Situation besser zu reagieren, ein besserer Mensch zu werden.

Wenn ich die Stellen lese, in denen die Qualen der Sünder beschrieben werden, überfällt mich zugleich eine Abscheu und ein Nicht-glauben-wollen, dass Gott so etwas Grässliches geschaffen haben könnte für Menschen, die Er doch eigentlich liebt. Aber wie müssen diese Schilderungen auf die Menschen vor 1400 Jahren gewirkt haben? Vielleicht sahen sie sich schon im Geiste mittendrin in dem Gräuel? Ist da nicht das Naheliegende, sich zu bessern? Es hilft ja manchmal, mit Worten zu jonglieren, um jemand in die richtige Richtung zu lenken, nämlich das Gute zu tun und das Schlechte zu meiden.

Ist es nicht das, was erreicht werden soll, was Gott will? Was soll eine Strafe, wenn wir die Situation, den Fehler nicht mehr korrigieren können, wenn wir nicht mehr auf der Erde existieren? Es nutzt nichts und niemandem, weder uns, noch der Gesellschaft. Es ist nicht mehr unser Körper, der dann die Strafe erhält, denn der ist vergangen.

Vielleicht findet deshalb das Gericht schon auf Erden, zu Lebzeiten statt. So können wir das negative Handeln lassen, wenn Gott uns damit konfrontiert und uns Gelegenheit gibt, darüber nachzudenken und dafür positiv zu handeln. Vielleicht gibt uns Gott immer wieder Gelegenheiten zum Nachdenken? Vielleicht ist das Gericht Gottes nicht nur eine einmalige Begebenheit, sondern findet immer wieder statt, hier auf Erden, indem wir nachdenken?

Hoffnung und Angst bewegten seit Anbeginn die Menschen. Vielleicht ist das Paradies das Synonym für Hoffnung und die Angst die Erscheinungsform für die Hölle?

Im Koran finden wir diese Wahrnehmungsform, also die Möglichkeit, wie auch die Wirklichkeitsform, die Wissenschaft. Wahrnehmung gilt nicht für einen Beweis; wie z.B. den Baum mit den Früchten, keiner hat ihn bisher gesehen. Dafür gibt es aber Verse, die wir heute mit der Wissenschaft beweisen können, z. B. dass die Planeten auf einer vorgegebenen Bahn ziehen oder von dem Entstehen eines Menschen aus einem befruchteten Ei.

Das Jüngste Gericht bedeutet für mich das Gericht mit mir selbst. Wir können auch sagen: Selbstkritik oder auch ein In-sich-gehen. Natürlich hat Gott Seine Finger im übertragenen Sinne mit im Spiel. Er lässt mich nachdenken. Vielleicht gibt Er mir Bilder im Traum ein oder lässt mich über Geschehnisse nachdenken. Handele ich dann richtig, fühle ich mich gut, wie im Paradies, handele ich nicht oder nur schlecht, bekomme ich vielleicht später Gewissensbisse und die können mich ganz schön zusetzen. Auf alle Fälle sollte daraus als Ergebnis ein anschließendes richtiges Handeln sein.

Was nützt ein Gericht Gottes, wenn die Erde nicht mehr existiert. Bis alle Vorzeichen zum Jüngsten Gericht wahr werden, können noch Tausende von Jahren vergehen. Es nützt ein Bestrafen in der Hölle niemandem mehr, es nützt dem Nachbarn nicht mehr, dem ich vielleicht schlimmes Unrecht angetan habe, meine Haltung zu ihm zu verbessern.

Aber Gott will ja, dass wir auf Erden zu unseren Lebzeiten das Richtige tun. Seine Hinwendung zu uns, um uns wieder auf den richtigen Weg zu bringen, auch Seine Strafen und Vergebung helfen uns dabei. Ermahnt Er uns denn nicht ständig: „Denkt nach!“

Der Koran ist dazu da, den Gläubigen den richtigen Weg zu weisen, ihnen Hoffnung zu machen und ihnen ihre Fehler aufzuzeigen. Und das kann er nur im Diesseits bewirken.

Gott ist überall. Er sagt, Er sei uns näher als unsere Schlagader. Das heißt: Er ist gleichzeitig in uns, um uns und trotzdem nicht in unser Raum-Zeit-Empfinden.

Wir brauchen nicht erst ins Jenseits kommen, von dem wir so gut wie nichts wissen, dessen Ort wir nicht kennen und nur durch den Koran eine wage Vorstellung haben, ähnlich dem Diesseits. Aber wir können jetzt unsere Handlungen so verrichten, wie Gott es von uns verlangt, dann nämlich haben wir als Ergebnis das Paradies schon hier auf Erden, zu unseren Lebzeiten.

Muhammad Iqbal (1877-1938) ein Dichter, Mystiker, Philosoph und politischer Denker, der ‚geistige Vater‘ der Nation Pakistan, fasst das Ganze mit einfachen Worten zusammen: „Das Paradies ist kein Raum und Ort, sondern ein Seelenzustand.“

Jeder hat seine eigene Vorstellung von Gott und dem Jenseits. Für mich war Gott von Anbeginn da, hat alles Materielle geschaffen, die Erde und auch wir als denkende Lebewesen und hat uns eine ideelle Richtung vorgegeben, so wie unsere Religion und als Mahnung die Hölle und das Paradies. Der Koran hilft mir, mit einem ruhigen oder vielleicht weniger ruhigen Gewissen Gott zu dienen, nämlich Sein Stellvertreter auf Erden zu sein.

Jeder macht irgendwelche Fehler. Aber mit dem Herzen und dem Verstand führt mein Weg zu Gott mich durch meine selbstgedachte Hölle ins Paradies. Die Hölle ist für mich eine Metapher, wie ich mich fühle, wenn ich bewusst etwas Schlechtes tue, mein schlechtes Gewissen, das Einem ganz schön übel zusetzen kann, eine Warnung, rechtschaffen durch’s Leben zu gehen und das Paradies ein zufriedener und glücklicher Zustand.

Möge also eines Tages unsere Seele mit Leichtigkeit und Glückseligkeit zu Gott zurückkehren.

Alhamdu liAllah!

Manaar

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