Die Inkompatibilität von Kollektivismus und Individualismus

Die Inkompatibilität von Kollektivismus und Individualismus

Autor: Massud Reza

Perry Grone
Perry Grone

Das Grundgesetz feiert in diesem Jahr seinen 70sten „Geburtstag“, da im Jahre 1949 die „vielen Väter und wenigen Mütter“ dieses Gründungsdokument der Bundesrepublik Deutschland eine Verfassung ausgearbeitet und verabschiedet haben, bei der weitgehende Freiheitsrechte der Gesellschaft zugestanden wurden. Dazu gehören nicht nur die Meinungs – und Pressefreiheit, sondern auch die Gleichberechtigung der Geschlechter. Auch gebietet das Grundgesetz jedem das Recht auf „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ wie das in Artikel 2, Abs. 1 seine verfassungspolitische Diktion findet. In Deutschland sowie überwiegend westlichen Gesellschaften ist der Wert des Individualismus ein fester Bestandteil der sozialen Realität. Der Kerngedanke vom Individualismus lautet, dass die Freiheit des Einzelnen im Vordergrund steht und nicht die des Kollektivs. Individuen können nach diesem Prinzip selbst entscheiden, welches Lebens – und Beziehungsmodell sie für sich in Anspruch nehmen und danach ihr Leben ausrichten, sofern sich das Ganze selbstverständlich im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechtsordnung bewegt. Angesichts der historischen Tatsache, dass man in früheren Gesellschaften im eigenen Stand verfangen war, man in diesem heiraten, arbeiten und überhaupt sein ganzes Leben verbringen musste, ist es in modernen Gesellschaften geradezu ein Fortschritt, dass sich jene Standesunterschiede weitestgehend nivellierten. Und dass auch trotz aller Problemen bei Bildungs – und Berufschancen, die häufig von der sozialen Herkunft der Eltern abhängig sind, wie das bereits zig Studien belegen konnten. Während vor hundert(en) Jahren besonders die Familie im gesellschaftlichen Mittelpunkt stand, bei dem das Individuum seine eigenen Interessen hinter das der Familie zurückstellen, ihr unhinterfragt Gehorsam leisten und nach den Lebensvorstellungen der Eltern leben musste, erleben wir heutzutage in den meisten Familien bereits einen frühen Emanzipationsprozess von den Eltern. Viele Menschen gehen ihren eigenen Bildungs – und Berufsweg und möchten – um diesen schwammigen Begriff zu gebrauchen – sich selbst verwirklichen.

Doch längst nicht überall wurde dieser Wert des Individualismus internalisiert und vorgelebt. In islamischen geprägten Staaten dominiert traditionell das Prinzip des Kollektivismus. Darunter versteht man die präferierte Vorrangstellung von Kollektiven bzw. Kollektivinteressen, die stets über individuelle Interessen stehen. Der gesellschaftliche Ausdruck dieses Prinzips findet sich in Familien, in denen häufig traditionelle Vorstellungen von Ehre herrschen. So ist die Ehre der Familie das entscheidende Kriterium nach dem sich das moralische Verhalten der Familienmitglieder auszurichten hat. Während Ehre etwas ist, was man sich in modernen Gesellschaften durch Leistungen erwirbt (sei es im Beruf, in der Bildung usw.), gilt das vormoderne Ehrkonzept in traditionell-islamischen Familien als gegeben, was stets bewahrt und tradiert gehört. Die Politikwissenschaftlerin Nina Scholz hat in ihrem herausgegebenen und sehr lesenswerten Werk „Gewalt im Namen der Ehre“ bereits in der Einleitung wesentliche Probleme benannt, die aus traditionellen Ehrvorstellungen resultieren: „In traditionell-kollektivistischen Strukturen wird dem einzelnen Menschen keine individuelle, von der Primärgruppe abweichende Identität im modernen Sinne zugestanden. Über Identität und Ansehen verfügt der oder die Einzelne nur vermittels der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, in der Regel (die weit gefasste) Familie. Ehre ist dabei ein kollektiver, aber stets gefährdeter „Besitz“ der Familie, der durch „unehrenhaftes“ Verhalten jederzeit verloren gehen kann. Im Kern geht es dabei stets um die Sexualität der Frau. Als unehrenhaft gilt jedes selbstbestimmte, nicht durch die Gemeinschaft abgesegnete sexuelle Verhalten. Ein Ehrverlust trifft die gesamte Familie in Form von Ächtung durch die Community.“

Nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in bestimmten Teilen von eher konservativ-muslimischen Familien in Europa ist dieses Phänomen zu finden. Solche vormoderne Ehrkonzepte wirken sich natürlich nicht folgenlos auf die Individuen aus, was für Jungen als auch für die Mädchen gilt. In der ständigen Angst vor einer Gesellschaft verhaftet, die die Freiheit des Einzelnen betont, führt dies zur stärkeren Vermittlung von traditionellen Geschlechterrollen seitens der Familie. Man nimmt Anstoß an der angeblich zu „freizügigen“ Lebensart der westlichen Gesellschaften, wovor man die eigenen Kinder schützen möchte. Den Kindern wird früh beigebracht, dass die Freiheit in westlichen Gesellschaften nur den Deutschen oder Europäern gilt, aber nicht der muslimischen oder türkischen oder arabischen Familie. Somit wird der universelle Gehalt des Freiheitsbegriffs gänzlich negiert und das obwohl jene Freiheit vom Grundgesetz und der Erklärung der Menschenrechte garantiert wird. Konkret drück sich diese Angst dadurch aus, dass den weiblichen Familienmitgliedern die Entscheidungsfreiheit aberkannt wird, wie sie sich zu kleiden, in der Öffentlichkeit zu benehmen, welchen Partner zu lieben haben und vieles mehr. Und auch die männlichen Familienmitglieder stehen unter dem sozialen Druck stets die Familienehre als Sittenwächter im Blick zu behalten und darauf zu achten, dass sozusagen kein „Schäfchen aus der Reihe tanzt“. So sind die Frauen wie auch die Männer nie in der Lage ihren individuellen Bedürfnissen und Interessen nachzugehen, sondern stets darin angehalten, den kollektivistischen Erwartungen der Familie und darüber hinaus der Gemeinschaft zu entsprechen. Wie Nina Scholz darlegte, ist die Zugehörigkeit zur Community etwas Unabdingbares, weshalb man die Werte und Normen der Community verinnerlicht, ohne sie groß zu hinterfragen. Das Ergebnis ist ein strenges Hierarchie – und gegenseitiges Kontrollverhältnis, wo jeder Einzelne in Beobachtung der anderen steht. Ist man nicht in der Lage die Ehre aufrechtzuerhalten, weil sich jemand moralisch nonkonform verhält, so können die Konsequenzen von verbaler bis hin zu physischer Gewalt und im letzten Schritt zum Mord führen. Wichtig wäre noch die Frage zu diskutieren, was das mit dem Islam zu tun hat? Traditionelle Ehrvorstellungen können auch in nichtislamischen Gesellschaften stattfinden. Das ist soweit richtig und man kann auch sagen, dass das vormoderne Ehrkonzept eine vorislamische Tradition ist. Nichtsdestotrotz kann man die Tatsache nicht geflissentlich ignorieren, dass eine buchstabengetreue Lesart der islamischen Überlieferung solche Ehrvorstellungen begünstigen können, wenn man an die Überlieferungsstellen denkt, die sich auf Kleidungs – und Sexualfragen beziehen. So kann sich eine spezifische, religiös-kulturelle begründete Form von Sexismus bilden, der genauso zu bekämpfen und zurückgewiesen gehört, wie es bei anderen Formen des Sexismus der Fall sein muss.

Die Mixtur aus einem konservativen Religionsverständnis und vormodernen Kulturvorstellungen müsste aufgebrochen werden, um in eine moderne und zugleich offene Gesellschaft nach den eigenen Wünschen zu leben, unabhängig davon was andere von einem erwarten. So hart das auch klingen mag, aber vermutlich kommt man nicht immer drumherum, den elterlichen Erwartungen nicht entsprechen zu können, wählt man für sich ein anderes Lebensmodell, als das was von der Familie vorgesehen wird. Eine Enttäuschung kann auch Vorteile bringen, denn was bedeutet überhaupt Enttäuschung? Die Vorsilbe Ent- weist daraufhin, dass etwas genommen wird, also in diesem Fall eine Täuschung. Wir wollen ja grundsätzlich nicht getäuscht werden oder uns Illusionen machen, deshalb kann eine Enttäuschung in dem Sinne positiv sein, da man sich ganz ungetrübt den eigenen Wünschen stellt und sich nicht mehr bezüglich der eigenen Erwartungen anlügt. Am Ende kann sich sogar ein viel vertrauensvolleres und optimistischeres Verhältnis zu den Eltern herausbilden, ohne einen Kontaktabbruch zu fürchten. Von meinem Standpunkt aus gebe ich aber zu, dass es ein langwieriger Prozess, jedoch kein unmöglicher ist.

Damit man mich nicht missversteht: Ich möchte keineswegs, dass man pauschalisierend an muslimische Jugendliche herangeht und ihnen unterstellt, dass sie Gefangene ihrer Ehrvorstellungen sind. Eine solche Pauschalierung wäre übertrieben und würde den Bemühungen von muslimischen Jugendlichen nicht gerecht werden, die mittels eigener Workshops andere Jugendliche zu erreichen versuchen. Erwähnenswert ist hierzu HEROES! Jugendliche, die früher einmal selbst traditionellen Ehrvorstellungen anhingen und nach einem Reflexionsprozess dies hinterfragt und überwunden haben sowie in den Dialog mit anderen jungen Menschen treten. Daher können die Leute bei HEROES als Vorbilder fungieren, um Jugendlichen zu zeigen, dass solche kollektivistischen Erwartungen nicht gott – oder naturgegeben sind. Wir Menschen sind soziale Wesen und brauchen durchaus Gruppen bzw. die Gesellschaft, da wir auch einen sozialen Tod fürchten müssen. Die Lebenserwartungen von Menschen, die wenig soziale Kontakte zur Familie, zu Freunden und anderen Leuten pflegen, haben häufiger Probleme mit ihrer Gesundheit. Deshalb kommt es mir nicht auf das Zurückweisen der Familie als Ort der Geborgenheit und sozialen Halts an, sondern die Familie als absolute Kontrollinstanz, was jegliche Individualität wenig bis gar nicht zulässt. Denken, Hinterfragen und Kritisieren gilt es im Umgang mit dem Kollektivismus zu berücksichtigen. Die Überschrift lautet nicht grundlos „Die Inkompatibilität von Kollektivismus und Individualismus“, da es hier nicht um Westen gegen Islam geht, sondern um Vertreter und Befürworter von Individualität auf der einen Seite und Gegner dieser Individualität auf der anderen Seite und das unabhängig vom religiösen oder sozialen Hintergrund.

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