Bekannte, fortschritliche Muslime

10.12.2021

Bekannte, fortschritliche Muslime

Geht es euch auch so? Immer wenn ich von einem islamistischen Anschlag höre, dann ist es, als wenn dieser Schlag mir selbst gilt. Ich bin tief im Inneren verletzt. Dann frage ich „Warum? Warum dieses Böse! Bietet denn das Leben nicht auch viel Schönes, Gutes und ist nicht jedwedes Leben gleichwert? Kein Gott gebietet grundlos Vernichtung von Leben und Gut, auch nicht Allah! Zeigt mir diesen Vers, in dem steht, dass friedliche Menschen einfach so getötet werden dürfen! Ist unser Gott nicht ein liebender Gott? Wenn ich gerade von Muslimen gemachte Untaten höre, denke ich an die Menschen, die den Islam bedeutend gemacht haben, an all die muslimischen Forscher, Gelehrte, Wissenschaftler, die Großes geleistet haben.

Die islamische Welt mit ihrer Kultur war noch vor mehreren Jahrhunderten eine Hochkultur, von der viele Inspirationen bis nach Europa ausstrahlten und hat viele herausragende Gelehrten hervorgebracht. Und vor allem: Muslime arbeiteten zusammen mit Christen und Juden, so entstand eine große Vielfältigkeit in der Erforschung. Vieles an Wissen verarbeiteten später die Europäer weiter, und oft kennt man heute den Namen des eigentlichen Urhebers nicht mehr. Um das Jahr 900 wurde die erste Ärzteschule des Abendlandes nach dem Vorbild des Ostens errichtet. Auch Kaiser Friedrich II. förderte die Mathematik und islamische Wissenschaft. Kopernikus arbeitete auf der Grundlage islamischer Forschungen. 

Heute ist es mein Anliegen, einige dieser Denker im Islam selbst zu Wort kommen zu lassen und euch nahezubringen. Das „Goldene Zeitalter des Islam“ vom 8.-14 Jh. und auch die Zeit danach hat viele Mediziner, Philosophen, Mathematiker, ja selbst Romantiker hervorgebracht. Denken wir an Ibn Rushd, genannt Averroes im 12. Jh., einer der Namensgeber unserer Moschee. Wir kennen ihn meist als einen andalusischen Philosophen, Jurist, aber als einen Arzt weniger. Er erkannte die Immunität bei Infektionskrankheiten, dass durch abgeschwächte Krankheitserreger der Körper gezwungen wird, sich zu wehren. Was kaum bekannt ist, dass es schon in der vorislamischen Zeit eine Schutzimpfung gegen Pocken existierte. 

Der Mathematiker und Astronomen Thabit ibn Qurra, Mathematiker, Astronom, Übersetzer, einer der bedeutendsten Wissenschaftler des 9.Jh. Er bestimmte die Länge des siderischen Jahres als 365 Tage, 6 Stunden, 9 Minuten und 12 Sekunden nur mit einem Fehler von 2 Sekunden. Das siderische Jahr gibt somit die Zeit für einen Orbit der Erde um die Sonne in Bezug auf eine feste Richtung im Raum wieder. Das siderische Jahr ist derzeit rund 20 Minuten und 24 Sekunden länger als das tropische Jahr, das die Basis für das bürgerliche Jahr der Kalenderrechnung bildet, darum verrückt z.B. der Frühlingsanfang immer mal wieder einen Tag vor.

Der Mathematiker al-Chwarizmi, latinisiert Algorismi (geboren um 780), von seinem Namen leitet sich der Begriff Algorithmus ab und ohne ihn würden wir vielleicht immer noch ohne die Ziffer „0“ auskommen müssen. der Universalgelehrte Ibn Sina, genannt Avicenna, geb. 980 in Bukhara, Arzt und Philosoph, Er war vielleicht der größte der Universalgelehrten des Mittelalters. Seine Enzyklopädie: ‚Der Kanon der Medizin‘ wurde als Standardwerk der Medizin sogar bis ins 19. Jahrhundert hinein benutzt. Das Werk enthält eine umfassende Beschreibung der Organe, ihrer Krankheiten, aber auch psychische Erkrankungen. Es informiert über ansteckende Krankheiten, stellt hygienische Regeln auf, wie die Ausbreitung verhindert werden kann. Er beschrieb und heilte auch Bauchfell- und Lungenentzündungen. 

Ar-Razi, geb.1149 im Iran, veröffentlichte als Erster Beiträge über Masern, Pocken und Rheuma und beschrieb schon damals die häufigsten Erkrankungen in der Neurologie. 

Hunain ibn Ishaq, geb. 808 nahe Bagdad, begründete die Lehre von den Erkrankungen des Auges und ihrer Behandlung. 

Al-Masawija, 9.Jh., beschrieb im 9. Jh. die Lepra. Die Kranken wurden in spezielle Krankenhäuser behandelt und nicht wie in Europa ausgesetzt. Später Anfang des 14. Jh. erkannte schon Ibn al-Chabit in Andalusien, dass die Pest, die damals Europa heimsuchte, durch Berührung übertragen wird. 

Dass wir heute tief in den Weltraum schauen können, ist es einer Erfindung von Ibn al-Haitham – Alhazen, geb.965, zu verdanken. Er beeinflusste maßgeblich die Entwicklung in der Optik und gilt als Wegbereiter für die Erfindung des Lesesteins, der letztendlich zur Erfindung der Brille führte und der Brillenmacher Hans Lipperhey konstruierte schließlich ein Instrument zum „Sehen in die Ferne“. Heute gilt es als erstes Linsenfernrohr. Galileo Galilei verbesserte 1609 dieses holländische Fernrohr mit der 3fachen Vergrößerung mehrmals, bis er drei Monde vom Jupiter erkennen konnte.

Das sind Erforschungen, von denen kaum jemand wusste und heute noch weiß. Viele von ihnen stützten sich auf die Wissenschaft der Antike, lernten von ihr und begründeten oft neue Richtungen in der Wissenschaft: Optik, Astronomie, Mathematik, Geologie, usw.

Die islamische Literatur ist voller Liebespoesie. Wir brauchen nur an Arabi und Rumi zu denken. Vergessen wir nicht die Mystikerin Rabia al-Adawiyya, die in Basra lebte und dort 801 starb. Von ihr ist bekannt, dass man sie in den Straßen von Basra sah, mit einem Eimer in der einen Hand und einer Fackel in der anderen. Gefragt, was das zu bedeuten habe, antwortete sie: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen.“

Ich möchte aus der großen Anzahl der Persönlichkeiten einige hervorheben. Da ist als Erster Hamid Abu Zaid, geb.1943, einer meiner besonderen Lehrer des Islam. Er war ein ägyptischer Koran- und Literaturwissenschaftler, der in seinen Büchern eine neue Koranhermeneutik forderte, die die sozialen und politischen Verhältnisse auf der Arabischen Halbinsel zur Entstehungszeit des Islams einbezieht. Er ist vor 11 Jahren gestorben. Er schrieb: „In meinen bisherigen Arbeiten habe ich das Konzept der ‚Offenbarung‘- ‚wahy‘ analysiert, habe ihre menschliche Dimension dargelegt. Ich nenne sie ‚vertikale‘ Dimension. Damit bezeichne ich den kommunikativen Prozess zwischen Gott und den Menschen, den Thesen über den menschlichen Aspekt des Korans. 

Von der vertikalen Dimension kommt man zur ‚horizontalen‘ Dimension, die sich im Prozess der Kommunikation selbst herausbildet. Sie kann nur begriffen werden, wenn man den Koran nicht mehr nur als ‚Text‘, sondern als ‚Diskurs‘ begreift. Ohne den Koran im Sinne von Diskursen neu zu denken, kann eine demokratische Textauslegung nicht erreicht werden, es musss also eine offene Auslegung geben, denn die Befreiung des religiösen Denkens von seiner Manipulation durch die Macht, sei sie nun politisch, sozial oder religiös begründet, ist Grundvoraussetzung dafür, religiösen Sinn an die Gemeinschaft der Gläubigen zu vermitteln. Dazu müssen wir eine offene demokratische Methodik zur Textauslegung ausarbeiten. Die offene demokratische Hermeneutik entspricht der Erfahrungsvielfalt; vorausgesetzt, die Religion wird als Teil der menschlichen Vielfalt des Lebens im Allgemeine angesehen. 

Wer kenn nicht den Marokkaner Ibn Battuta bzw. sein Buch: Reisen bis ans Ende der Welt“. Er lebte von 1304 und starb 1368 in Marokko. Eigentlich war er ein berberischer Rechtsgelehrter, dennoch der berühmteste Reisende. Er bereiste fast die gesamte damalige bekannte Welt, getrieben von Neugier, Wissensdurst und Offenheit gegenüber fremden Kulturen und beschrieb ausführlich und ausdrucksvoll seine persönlichen Erlebnisse. Auf seinen Reisen war er einmal Pilger, Prediger, Kaufmann, mal Richter, Gelehrter, aber auf alle Fälle ein hervorragender Beobachter. Eigentlich wollte er nur seine Hadsch absolvieren, machte aber immer wieder Abstecher durch Syrien und Persien, besuchte weitere Städte, die am gesicherten Weg lagen über den Sinai Richtung Jerusalem, ehe er nach Madina und Mekka zog. Von dort aus zog es ihn immer wieder durch die Welt, mal nach Süden Richtung Afrika, um immer wieder zum Ausgangspunkt, Mekka und Medina zu gelangen, mal nach Norden über die Türkei, Richtung Schwarzes Meer, weiter ins Land der Tataren, wo er überschwänglich schon erwartet du geehrt wurde. 

Weiter ging die Reise Richtung Osten nach Buchara, die berühmte Stadt des Wissens, über Samarkand und Chorasan nach Afghanistan. In China verbrachte er sogar 14 Jahre, dann zog er weiter durch Indien zurück durch Persien. Insgesamt unternahm er 4 große Reisen. Überall war er ein gern gesehener Mann, trieb Handel, gründete eine Familie, berichtete über die Eindrücke seiner Reisen, lernte und bewunderte die unterschiedlichsten Lebensumstände der Menschen, ihre Kunst und Kultur, ihre Sitten und Gebräuche, staunte über die Bauweisen ihrer Moscheen. Das alles beschrieb er den Menschen, wo er Station bezog. So brachte er die Menschen mit ihren Kulturen einander näher. 

Ibn Chaldun, geb.1332 in Tunis, gest. 1406 in Kairo. Er war der erste Schriftsteller, der die Geschichte als das eigentliche Objekt einer Spezialwissenschaft abfasste, der Begründer der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie. Man nennt ihn heute den Vater der Soziologie. Die Stärke in seinen Werken liegt in seiner schonungslosen Analyse der politischen Missstände, der sozialen und wirtschaftlichen Ursachen, die der Entwicklung eines Staates zugrunde liegen. Seine „Muqaddima“, was eigentlich ‚Einleitung‘ heißt, ist eine Bestandsaufnahme und Durchleuchtung des gesamten Wissens seiner Zeit, von der Logik über die Landwirtschaft bis hin zur Astrologie und Alchemie. Er behauptet: „Je größer der Zusammenhalt einer Gemeinschaft, desto komplexer und höher die zivilisatorische Stufe, die eine Gemeinschaft erklimmt. In der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft und vor allem in der Verstädterung liegt aber der Keim ihres Zerfalls, weil die natürlichen Bindungen immer mehr nachlassen und die Gewöhnung an den Luxus dazu führt, dass der Staat über seine Verhältnisse lebt.“

Er meinte, die genaue Erforschung der von Gott geschaffenen Dinge und die Befreiung der Überlieferung von erdachten Erzählungen dient der Suche nach der Wahrheit. Die Anwendung der Geschichtswissenschaft setzt Kenntnisse über die Struktur der Staatsführung, über die Unterschiede zwischen den Völkern sowie Kenntnisse über Gewohnheit, Religion und Sitten voraus. Er war mit seinen Vorstellungen von einem idealen Staat weit voraus. Er betonte, nicht das Ansehen, nicht Worte, sondern die Beziehung zwischen Herrschern oder Staaten ist von entscheidender Bedeutung. 

Er fungierte mehrmals als Kadi, fiel immer wieder in Ungnade, lehrte in der Al-Ashar-Universität und hinterließ der Menschheit seine Universalgeschichte, dem Kitāb al-ʿibar. Und wie ist es in unserer Zeit? Heute erfahren wir immer wieder durch Medien, dass Wissenschaftler, Publizisten verleumdet oder von Gerichten islamischer Länder angeklagt werden. Stellvertretend von ihnen möchte ich Said Djabelkhir hervorheben. Er wurde 1964 geboren, studierte Islamwissenschaft und Philosophie an der Universität von Algier. Er arbeitet als Journalist, gründete 2014 den Verein „Lichterkreis für freies Denken“, der Denker zu Vorträgen über Religion, Geschichte, Kultur und algerische Gesellschaft einlädt. Besonders am Herzen liegt ihm die Frage der Vielfalt der Gesellschaft. Er setzt sich für eine Aktualisierung der Interpretation des Koran ein. Vor Kurzem wurde er wegen „Beleidigung des Islam“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Seiner Meinung nach existierten das rituelle Opfern der Schafe und die Pilgerfahrt nach Mekka schon vor dem Islam und habe daher einen heidnischen Ursprung. Er stellte auch fest, dass es beim Lesen des Korans notwendig sei, zwischen Geschichte und Mythen zu unterscheiden, und dass viele der Korangeschichten von einem symbolischen Standpunkt aus betrachtet werden müssen. Und er spricht sich für eine Trennung von Politik und Religion in Algerien aus. 

Was ist daran falsch? Ein Computerlehrer hatte Anzeige erstattet, weil er sich durch seine Äußerungen beleidigt fühlte. Er wurde zu drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe wegen „Beleidigung des Islam“ verurteilt. Er ist in Berufung gegangen. Viele Muslime werden wie er diskriminiert oder stehen vor Gericht, weil sie für einen neu interpretierten Koran oder für einen humanistischen Islam streiten. Von vielen erfahren wir gar nichts. 

Ich wollte eigentlich nur daran erinnern, dass es viele hervorragende Persönlichkeiten im Islam gab und gibt, die der Menschheit viel Gutes und Wissenswertes gegeben haben und die Wissenschaft auf einen hohen Status gestellt haben und auf die wir stolz sein sollten.  In Europa entwickelt sich seit ungefähr 200 Jahren eine universale humanistische Ethik. Ich meine, auch Gott predigt durch den Koran einen ethischen Islam. Unter dem Dach der Menschrechte könnten alle ihrer Kulturen ihren Platz finden.

Ich habe heute einige wenige hervorgehoben. Denn ich meine, da immer wieder der Islam durch negative Geschehnisse auf den Prüfstand steht, es wichtig ist, auch einmal auf das Positive hinzuweisen wie auf die islamische Kultur. Das vergisst man nur allzu oft. Ich habe von ihnen gesprochen, um uns Mut zu machen, ihnen nachzueifern und uns nicht davon abzuhalten, unsere Stimmen zu erheben für einen liebens- und lebenswerten Islam.

Manaar

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