Taqwa

Taqwa

Was ist eigentlich deine Religion?

Eine Khutba zum Begriff Taqwa

Assalamu aleikum wa rahmatullah wa barakatuhu.

In meiner heutigen Khutba geht es um den Begriff Taqwa. Er wird im Koran 285 Mal erwähnt (z.B. in den Suren 92:5-6 und 49:13) und gilt als ein zentraler Begriff.

„Siehe, der gilt bei Gott als edelster von euch, der am meisten Taqwa hat“.

Sura Laila AlQadr

Wir sandten ihn herab in der Nacht des Schicksals. Und was lehrt dich wissen, was die Nacht des Schicksals ist? Die Nacht des Schicksals ist besser als 1000 Monate. In ihr steigen die Engel und der Geist herab nach dem Gebot ihres Herrn, jeder mit seinem Anliegen. Friede währt bis zum Beginn der Morgenröte.

Er, der Koran, ist der Beginn unserer Religion, des Islam.

„Was ist eigentlich deine Religion?“, fragte mich neulich eine Journalistin. „Bist du Muslimin?“

Mein „Ja“ kam zaghaft. Nicht etwa, weil ich nicht weiß, ob ich Muslimin bin, sondern vielmehr weil ich nicht weiß, was eine Religion ist. Was genau heißt Religion?

Ethymologisch kommt das Wort von Religio – laut Wikipedia versteht man darunter die „gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt, zu Lateinisch relegere – bedenken, achtgeben, Sorgfalt walten lassen in der Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften“.

Die sorgfältige Beachtung von Vorschriften… Als Muslime sind wir hier Experten. Wir finden in unserer Religion gefühlt eine Million Vorschriften, die es zu beachten gilt. Neben den zehn Geboten, die Moses auf dem Berg Sinai empfing, sind hier einige weitere, die mir spontan einfallen:

  1. Iss kein Schweinefleisch
  2. Trinke keinen Alkohol
  3. Spiel nicht um Geld
  4. Bedecke dein Haupt
  5. Bete mehrmals am Tag
  6. Spiele nicht während des Gebets unnötig mit den Fingern
  7. Sprich nicht während einer Khutba
  8. Iss und trink nicht in der Moschee
  9. Habe keinen außerehelichen Geschlechtsverkehr
  10. Faste im Ramadan
  11. Verstecke deine Homosexualität
  12. Wasche dich in vorgegebener Reihenfolge vor dem Gebet
  13. Berühre nach dem Waschen keine Frau, die dir als Ehefrau erlaubt wäre
  14. Steht beim Gebet Schulter an Schulter, um dem Teufel keinen Raum zu bieten
  15. Bleibt nicht allein mit einer Person des anderen Geschlechts in einem geschlossenen Raum, z.B. Taxi.
  16. Frauen, ruft nicht zum Gebet vor Männern und werdet keine Imaminnen, denn es ist verboten
  17. Halte nicht die Hand deines Geliebten bevor du verlobt bist
  18. und so weiter und so fort

Die Strafen fallen unterschiedlich hart aus. Auf einige steht gar das Urteil des Höllenfeuers.

Religion bedeutet also die Befolgung aller dieser Regeln? Halten wir uns brav an all diese Vorgaben und alle darüber hinausgehenden Regeln, die ich hier nicht erwähnt habe – so wird uns suggeriert – kommen wir automatisch ins Paradies. Die zehnmalige Rezitation der anfangs rezitierten Sura führt automatisch zur Vergebung von genau Eintausend Sünden. Neben dem Vermeiden der Sünden und unerwünschten Handlungen können wir noch Paradiespunkte sammeln, indem wir Gutes tun. Hassanat, heißen sie. Ich sammle

Hassanat für das Spenden eines Schafes zum Opferfest

Hassanat für das Fasten im Ramadan

Hassanat für das Speisen eines Mittellosen

Und so weiter und so fort.

Als letztes sammle ich Hassanat, indem ich an Schlechtes denke, aber es nicht vollziehe.

Habe ich alles gut gemacht, die eintausend Regeln befolgt, so geht es schnurstracks ins Paradies.

Man sollte meinen, erst nach der industriellen Revolution konnte der Menschheit eine derart maschinenartige Regelhaftigkeit der Religion in den Sinn kommen. Ist das überhaupt Religion? Ist das meine Religion? Hat das im weitesten Sinne etwas mit unserem Glauben zu tun?

Im aller weitesten Sinne schon. Wir sollen ja in der Tat Gutes tun, und wir lesen im Koran, dass wir dafür belohnt werden. Dies ist wichtig, damit eine Gesellschaft zu einem angenehmen, angstfreien, im Idealfall sogar liebevollen Ort des Miteinanders wird, in dem man sich kreativ entfalten kann, in dem man nicht zu tief fällt, weil sich andere kümmern, in dem keiner hungert, denn irgend jemand wird schon ein Schaf opfern. Wir zeigen unsere Liebe zu Gott durch unsere Liebe zu seiner Schöpfung. Also ja, die guten Taten haben tatsächlich etwas mit Religion zu tun.

Bei den Verboten muss man vielleicht genauer differenzieren. Es gibt solche, die einer Gesellschaft gut tun, wie dass man nicht töten darf, dass man für Ehebruch sicherlich keine Hassanat bekommt und sich der üblen Nachrede enthalten sollte.

Daneben gibt es aber auch Verbote, die nur stören und vom Wesentlichen ablenken. Ob da jemand seinen Finger nach dem Gebet ausstreckt oder dreht, wie jemand seine Arme verschränkt, ob man neben einem Mann oder einer Frau steht – diese Dinge unterliegen der individuellen Gestaltungsfreiheit. Angesichts der großen Fragen der Menschheit kann mir keiner glaubhaft erzählen, sie wären wesentlich für die Gestaltung der Welt oder unseren Einzug ins Paradies. Wir möchten das Wesentliche finden. Aber„was lehrt uns wissen, was das Wesentliche ist“? Oder wenigstens das eine oder andere wesentliche Element… Wenn es nicht die sorgfältig zu beachtenden Regeln sind, was ist es dann?

Antworten auf religionsphilosophische Fragen finde ich manchmal beim Lesen des Korans, manchmal in den Hadithen, manchmal beim Reiten auf „meinem“ Pferd. Nach jeder Reitstunde fragt mich meine Reitlehrerin, „was nimmst du heute mit?“ Sie erwartet von mir, einen Gedanken zu formulieren, der durch das Reiten inspiriert wurde. Vielleicht so etwas wie „Wenn ich am Zügel fest ziehe, läuft das Pferd in die andere Richtung“. Schon dieser Satz beinhaltet eine Lebensweisheit. Also: „Je fester ich in eine Richtung am Zügel ziehe, desto mehr will das Pferd genau anders lang“. Die metaphorische Auslegung dieses Satzes überlasse ich jedem selbst.

Neulich saß ich also auf meinem Pferd und nicht weit von mir gab es ein Hindernis, zu dem ich hinreiten wollte. Ein Stück durch den Sand, leicht nach rechts und dann geradeaus. Es gab keinen sichtbaren Weg dorthin. Im Sandboden war nichts vorgezeichnet. Ich stellte mich mental darauf ein, bald am Ziel anzukommen. Durch einen leichten Tritt in die Flanken bewegte ich mein Pferd dazu, los zu traben. Ohne die geringste Mühe, ohne die Verwendung verbaler Sprache, ohne Peitschenschläge trug das Pferd seine Reiterin genau dorthin, wo sie ankommen wollte. Der mentale Akt des Beschlussfassens schien sich auf das Pferd übertragen zu haben. Das Pferd wusste, ohne die explizite Mitteilung in irgendeiner Form, wo das Ziel lag und wie es dort hinkommen würde. Wir beide, mein Pferd und ich waren beim Reiten eins geworden und erreichten in kurzer Zeit das avisierte Ziel.

Doch nur scheinbar war es der mentale Prozess, der sich übertragen hatte. In Wirklichkeit hatte nicht mein Geist gesprochen, sondern vielmehr mein Körper, der dem Pferd den Weg gewiesen hatte. Durch meine Beschlussfassung und die daraus folgende Ausrichtung meines Blickes hin zum Ziel drehte sich unmerklich meine linke Hüfte leicht nach vorn, die rechte schob sich dabei ebenso unmerklich zurück. Mit der Hüftbewegung ging die Schulterbewegung einher, sowie eine Verlagerung des Gewichtes auf die linke Seite – wenngleich ich doch nach rechts reiten wollte. Mein ganzer Körper trug die Entscheidung, die ich getroffen hatte. Hätte man mir die notwendige Körperhaltung in allen Details beschrieben, hätte ich diese nie umsetzen können. Viel zu kompliziert wären die Details zu vollziehen gewesen. Niemals wäre ich auf diese Weise an mein Ziel gelangt, denn unzählige weitere Informationen hätten noch ergänzt werden müssen. Nur durch mein eigenes regelmäßiges Atmen blieb das Pferd im Trab, nur durch die unabgelenkte Konzentration auf das Ziel fand eine hilfreiche Hormonausschüttung statt und vieles mehr.

Ein paar Tage später versuchte ich beim Spaziergang zu überprüfen, ob das immer so funktioniert. In der Tat, wenn man den Blick auf ein Ziel richtet, ergibt sich der Rest fast von allein. Sind die Füße einmal richtig gesetzt, laufen wir in die richtige Richtung.

Was hat das mit der Frage zu tun, was Religion ist, und was mit dem Islam? Nun, wer es sich als Ziel gewählt hat, ein guter Muslim zu sein, was auch immer das genau heißt, kann gerne alle die Regeln und Anweisungen auswendig lernen. Aber dass er so zum Ziel kommt, möchte ich bezweifeln, denn der Koran ist kein Regelwerk, kein Gesetzbuch. Wesentliches wird fehlen und Details werden falsch verstanden werden oder falsch ausgeführt. Der Koran ist ein Buch der Philosophie, ein Buch zur Hilfe der Entwicklung einer Haltung. Es geht nicht um die Details. Es geht, ganz wie beim Reiten, um eine Haltung.

Im Islam heißt diese Haltung Taqwa. Ich werde den Begriff gleich erklären. Taqwa, so möchte ich behaupten, ist also eine Haltung. Nehmen wir diese Haltung ein, sind unsere Seele und unser Körper in die richtige Richtung gewandt. Dieses Einnehmen der richtigen Richtung möchte ich als Wesenselement unserer Religion, unseres Glaubens bezeichnen.

In den Übersetzungen wird Taqwa häufig mit Furcht wiedergegeben. Sure 92:5-6 z.B. oder 49:13 sprechen von Taqwa als Gottesfurcht. „Ittaq Allah!“, so sagt man es im Imperativ, und übersetzt es mit „Fürchte Gott!“ Eine ungünstige Übersetzung, die vor allem der schwierigen Grammatik geschuldet ist. Neulich sagte ein Imam, es heißt zwar eigentlich etwas anderes, aber weil wir es nun mal so kennen, und weil es in der Deutschen Sprache so funktioniert, werde er es weiter als Gottesfurcht bezeichnen. So tradiert sich die Vorstellung des Islam als unterdrückendes Element.

Bei genauerem Studium erkennt man jedoch: Taqwa bedeutet eigentlich etwas anderes. Etwas im Deutschen grammatikalisch Sperriges, das man bezeichnen kann als „das Gewahrsein, dass es einen Gott gibt“. „Ittaq Allah! – Beachte Gott auf all deinen Wegen. Richte deine Wege danach aus. Indem wir bei der Formulierung unserer Ziele und auf unseren Wegen dorthin davon überzeugt sind, dass es einen barmherzigen Gott gibt, verkörpern wir auch diese Überzeugung.

Die Taqwa Praktizieren heißen „Al Muttaqin“. Die Übersetzung mit „die Frommen“ hilft uns nur bedingt weiter, weil wir nun definieren müssten, was Frömmigkeit bedeutet – also das Einhalten von Regeln, oder das Einnehmen einer Haltung? Murtada Mutahhari, ein zeitgenössischer schiitischer Ayatullah schreibt: „Es ist wichtig festzustellen, dass es bei Taqwa nicht um die Ausführung religiöser Verpflichtungen wie Gebet oder Fasten geht, sondern darum, ein frommes Leben zu führen. Der Begriff der Frömmigkeit ist im Deutschen etwas antiquiert und hat den Hauch einer Konnotation von Unterwerfung und Kindlichkeit. Taqwa hingegen bedeutet durchaus, sich rational mit der Religion zu befassen, um die Zügel für das eigene Leben in der Hand zu haben.

So sagte der Imam Ali: Seid euch gewahr, dass Frömmigkeit ist wie ein gezähmtes Pferd, dessen Reiter die Zügel in der Hand hält, so dass es ihn in den Himmel führt.

In der Literatur und mehr noch bei den Youtube Predigern der Gegenwart, finden wir in Bezug auf den Begriff Taqwa vor allem die Bedeutung von Schutz, womit stets ein äußerer Schutz gemeint ist, nämlich indem man Situationen vermeidet, die einen auf falsche Wege leiten können. Man soll demnach gesellschaftliche Kontexte umgehen, die dazu führen, dass man sich falsch verhält. Ein Mensch hat nach dieser Vorstellung Taqwa, ist sich Gott gewahr, wenn er nicht auf Partys geht, da er dort in Versuchung geraten könnte, Alkohol zu trinken. Ein Mensch, der Taqwa hat geht nicht an den Strand, weil dort zu viel Körper zu sehen ist. Ich halte dies weder für erstrebenswert, noch für durchführbar, da man so praktisch sämtliche sozialen Kontexte vermeiden müsste. Will man keinen Alkohol kaufen, kann man beim Türken einkaufen gehen. Aber will man von Lügen und falschen Nachreden verschont werden, müsste man sich stets und überall von Menschen fernhalten und ein Einsiedlerleben in Wald oder Wüste führen. Die Betonung dieser äußerlichen Art von Taqwa führt im Übrigen meiner Ansicht nach zu Lug und Trug oder zur Spaltung der Gesellschaft – jedenfalls zu nichts Gutem.

Doch gibt es daneben eine andere Definition der Taqwa, nämlich die einer bestimmten inneren Haltung. Taqwa hat, wer in allen Kontexten seines Lebens bedenkt, dass es einen Gott gibt. Taqwa bezieht sich damit auf die Seele des Menschen. Wer sich seelisch-mental sicher ist, was er oder sie will, wird dies vor sich und anderen verkörpern. Wer sich sicher ist, dass es einen Gott gibt, wird seine Entscheidungen so treffen, dass sie Gottes Schöpfung wohl tun. In allen Momenten des Lebens, an allen Orten und zu allen Zeiten zu wissen, dass es Gott gibt, sich damit wohl zu fühlen und dies zu allen Entscheidungsfindungen hinzuzuziehen, nicht aus Angst, sondern aus Liebe und Respekt – das ist Religion, oder zumindest ein wesentliches Element davon. Immer also zu bedenken, dass es Gott gibt.

Durch den Aufbau dieser inneren Haltung ist der Begriff Taqwa die Schnittstelle zwischen Unterwerfung und Freiheit. Während wir Gott gewahr sind und uns als verantwortungsbewussten Teil der göttlichen Schöpfung mit Rechten und Pflichten definieren, sind wir zugleich in all unserem Handeln frei, denn es unterliegt nicht tausenden Gesetzen, sondern einer inneren Einstellung, die unseren Charakter ausmacht und uns beschreibt. Wie werden wir zum Muslim? Durch Taqwa.

Taqwa – das Gewahrsein, dass es einen Gott gibt, leitet uns auf einen guten Weg. Dieser gute Weg ist im Islam klar vorgezeichnet. Es ist der Weg der Barmherzigkeit und der Liebe, der Weg der Freiheit und Selbstbestimmung, und der Weg des Schutzes all derer, die des Schutzes bedürfen.

Wenn wir Gott gewahr sind, gestalten wir eine Welt, in der alle so leben können, wie es Gott wünscht. Die Armen sind gespeist, die Alten versorgt, die Rechte der Schöpfung gewahrt, die Mädchen den Jungen gleich, Frauen nicht geschlagen und Männer nicht geknechtet. Kinder in Schulen, lernend, und auch Erwachsene sich bildend, die Menschen einander gegenüber in Barmherzigkeit und Freundlichkeit auftretend, ohne zu Verurteilen. Ittaq Allah – sind wir uns gewahr, dass es einen Gott gibt und begegnen diesem in Ehrfurcht, so wird sich dies in unserem Körper manifestieren, in unserem Blick, unserem Händedruck, unserer Umarmung, unserem Zuhören und unserer Fähigkeit, Ziele zu benennen und gute Wege zu gehen.

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