Die neue Gemeinschaft

 24.04.2020

Die neue Gemeinschaft

Wenn ich heute von meiner Kindheit erzähle, muss ich beachten, dass nicht das Kind erzählt, sondern ich mit meinen vielen Jahren. Das damals Erlebte rekonstruiere ich und interpretiere es aus meiner heutigen Sicht. Es ist keine exakte Wiedergabe, sondern eine neue, die sich mit der Zeit immer wieder ganz leicht wandeln kann.

Letztlich habe ich ein Gebilde zusammengebastelt, so wie ich es mir gern vorstelle.

       Und so ist es auch mit unserer Religion. Wir betrachten die ersten Muslime von unserem heutigen Blick aus, oft als fertige Muslime mit einer neuen Religion. Aber das war ganz und gar nicht so. Es fällt uns schwer, die Jahrhunderte einer Entwicklung zu überbrücken und Muhammads Zuhörer so zu sehen, wie sie waren. Die erste Gemeinde, die sich gerade erst zusammengefunden hat, das waren Menschen, die in Mekka, später in Jathrib, dem neuen Medina wohnten, Gottsuchende, Juden, unterschiedliche Strömungen von Christen, Vielgläubige. Sie alle hatten einen speziellen religiösen Hintergrund und standen sicher fest in ihrem Glauben. Ihr Glaube war oft durch ihre Stammeszugehörigkeit fest etabliert. Aber sie waren offen und neugierig. Diesen Gesichtspunkt müssen wir viel mehr beachten, wenn wir über die ersten Gemeindemitglieder dieser neuen religiösen Strömung und die langzeitliche Herabsendung des Koran sprechen und um den Inhalt des Koran mit seinem Dialog zwischen Gott und den Menschen und ihrer Geschichte besser zu verstehen.

    In Arabien gab es keinen Staat mit einem Rechtsystem, sondern es lebten dort viele Stämme mit jeweils eigener Stammesethik. Mehrere Stämme oder einzelne Clans bewohnten gemeinsam einen Marktflecken, in der es nicht immer friedlich zuging. Das Recht der stärkeren Gruppierung oder Clan bestimmte mehr oder weniger das Leben innerhalb eines Stammes oder einer Ortschaft.

     Wir dürfen nicht vergessen, dass es keine Menschen gab und gibt, dessen Persönlichkeit sich nicht weiterentwickelt. Auch Muhammad war keine unveränderliche Persönlichkeit. Dessen Lebensumstände werden sich drastisch verändern.

     Stellt euch vor: Da kommt jemand daher, vielleicht auf dem Markt als Zentrum der Begegnung, der von sich behauptet: „Mich schickt Gott zu euch!“ Er habe eine Botschaft übermittelt bekommen, in der es hieß: Er sei als ein Warner mit einer göttlichen Botschaft zu den Menschen gesandt worden. Die Botschaft würde lauten: Der Tag des Jüngsten Gerichts ist nah, macht euch bereit und verneigt euch vor eurem Herrn.

      Wie könnten da die Menschen reagiert haben! Stellt es euch einfach mal vor! Sie würden untereinander tuscheln, ihn für verrückt halten, den Kopf schütteln. Andere überlegen vielleicht: Meint er den einen von unseren Göttern, Allah? Hat er sich das jetzt nur ausgedacht oder schickt Allah wirklich diesen Mann und warum?

    Viele gehen empört weg, andere kommen näher und hören sich das an, was Muhammad zu sagen hat. Sie werden vielleicht zuerst über das Gehörte erstaunt, dann nachdenklich sein und schließlich Muhammad bestürmen, er solle doch mehr erzählen: Warum hat Gott ihn und keinen anderen gewählt und was soll das Ganze eigentlich bedeuten! Anfangs werden sie die neuen Verse aus der Sicht ihrer eigenen religiösen Strömung oder Religion betrachten, Schlüsse daraus ziehen. Vielleicht denkt ein Jude: Steht das nicht so ähnlich, nur mit anderen Worten, in unserem Alten Testament? Oder: Das, was Muhammad berichtet über Isa, Jesus, kenne ich doch schon! Und so findet sich vieles, was in den alten, religiösen Büchern steht, im Koran wieder. All das, was die Menschen damals berührte, was Teil ihres Lebens und ihrer Situation im Alltag und im Besonderen war, findet in den Worten Gottes Beachtung. Es spiegelt ihr Leben und ihre Fragen auf besondere Situationen wider. Und viele Fragen von uns heute strahlen zurück und geben auch uns Antwort.

    Warum ich so genau auf die Situation von damals eingehe? Ich möchte euch einfach sensibilisieren. Stellt euch vor: Ihr kommt in eine neugegründete Gruppe, da ist vielleicht ein Biologe, ein Geologe, ein Vulkanologe. Sie haben aber ein Thema mit einem Ziel, eine Aufgabe. So ungefähr könnte auch die neue religiöse Zusammensetzung der ersten Gruppe, der ersten Gemeinschaft gewesen sein. Wir sagen heute Team mit Mitgliedern, die alle unterschiedliche Hintergründe und Voraussetzungen mitbringen. Es war auf alle Fälle nicht leicht, daraus eine Gruppe mit fast übereinstimmender Denkweise zu bilden. Das passierte wohl erst lange nach dem Tode des Propheten.  

    Das Neue daran war die Bildung einer Gemeinschaft, die nicht auf der Grundlage der Blutsverwandtschaft, sondern auf der Grundlage bestimmter miteinander geteilter Werte beruhte. Im Hinterkopf herrschte sicher noch ihre vorherige religiöse Gesinnung, aber langsam teilten sie bestimmte Überzeugungen miteinander.

      Gott ladet also alle Menschen ein, egal welcher religiöser Strömung sie angehören. Sicher werden es mit der Zeit immer mehr, die kommen, um zuzuhören, Fragen zu stellen und langsam zu begreifen. Es sind diejenigen, auf deren Fragen Gott in eine der nächsten Sendung auf ihre Fragen Antwort gibt. So entsteht ein Dialog zwischen den ersten Gemeindemitgliedern um den Propheten Muhammad und Gott. Es ist aber noch nicht der Islam, so wie wir ihn heute kennen.

    Gott bezeichnete Ibrahim als einen Hanif. Hanif bedeutet: ‚Gott ergeben sein, dem einzigen Gott nichts beigesellen‘. Ich würde sagen: Sie waren Gott-Gläubige. Der koranische Ausdruck ‚ḥanīf‘ hat etwa die Bedeutung: ‚Nicht zu den Heiden zu gehören‘. Die Sure 3:95 sagt darüber: „Sag: Gott hat die Wahrheit gesagt. Darum folgt der Religion Abrahams, eines Hanifen – er war kein Heide.“

     Ich denke, viele dieser Hanifen, die zu Muhammad kamen, gehörten diesem Monotheismus an, der nicht mehr mit dem Christentum noch mit dem Judentum identisch war. Und sie grenzten sich folglich auch vom Heidentum, dem Polytheismus, mit dem Vielgötterglauben vieler Stämme in Mekka und in ganz Arabien ab.

    Übrigens: Der Koran spricht nicht ein einziges Mal in einer Anrede zu einem Muslim, sondern zu Gläubigen, zu Frauen, zu Einzelpersonen. Wenn über den Islam bzw. über einen Muslim gesprochen wird, dann im Sinne des Ergebens und Glauben an den Einzigen. Ein Beispiel in Sure 2: 112: „Doch wer sich Allah ergibt und Gutes tut, der hat seinen Lohn bei seinem Herrn und diese werden weder Angst haben noch werden sie traurig sein.“ Muhammad Assad sagt dazu: Dieser im Koran mehrfach wiederholte Ausdruck (sich Gott ergeben) stellt eine vollkommene Definition des ‚Islam‘ dar, das von dem Wurzelverb aslama (er ergab sich) abgeleitet ist und ‚Selbstergebung in Gott‘ bedeutet. Und genau in diese Sinne werden die Begriffe ‚Islam‘ und ‚Muslim‘ im Koran verwendet. Wer Gott sich ergibt ist ein Muslim.

     Hier noch eine andere Sicht auf eine andere Zeit: Die Sure 10:84 sagt aus: Und Moses sprach: “O mein Volk, habt ihr an Allah geglaubt, so vertraut nun auf Ihn, wenn ihr euch (Ihm) wirklich ergeben (Muslimin) habt.” Moses wandte sich bei dem Treffen mit dem Pharao an die Israeliten, also an sein Volk und wahrscheinlich auch an die Ägypter: Wenn ihr wirklich an Gott glaubt und ihm ergeben seid, dann also könnt ihr ihm auch vertrauen.

      Muhammad hatte eigentlich sicher gar nicht vor, eine neue Religion zu bilden. Er wollte nur eine neue Qualität im Glauben, eine neue und bessere Stufe. Er fühlte sich bestimmt nicht als Religionsstifter. Er behauptete ja immer nur ein Warner zu sein. Und so steht es auch im Koran.

     Der neue Glauben an den Einen Gott veränderte die Menschen, so dass aus Christen, Juden usw. erst mit der Zeit Muslime wurden. Das heißt, der Koran, der an die damaligen Menschen gesandt wurde, ist an Menschen gesandt, die vorher ganz anders glaubten. Erst als sie sich ethisch und religiös annäherten, wurden sie zu einer festen Gemeinschaft und der Islam entstand. So müssen wir es heute betrachten.

    Viele Probleme, die es damals gab und auf die der Koran damals Antwort gab, gibt es auch heute noch. Darum können wir heute den Koran noch anwenden, aber nur aus unserer heutigen Sicht und darum ist auch der Koran lebendig geblieben.

 Er griff Fragen auf, die die Menschen aller religiösen Sichtweisen betraf. Es betraf Dinge, die seiner eigenen religiösen Gedankenwelt entsprangen.

    Der Koran hat somit eine irdische Geschichte. Viel Neues stürmte auf die Menschen damals ein, woran sie vorher nicht gedacht haben mögen, zumindest in dieser Art und Weise nicht. Und jeder hatte andere Fragen. Und der Koran bzw. Gott gab ihren die Antwort.

    Gott richtete sich an alle Menschen, die damals in Arabien lebten, an die christlichen Einsiedler, an all die Gott Suchenden. Und auch heute noch wird jeder Mensch im Koran angesprochen.

Manaar

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