Der Kampf muss gegen den politischen Islam geführt werden

Am 10.November wurde folgender Beitrag von Seyran Ates auf www.cicero.de unter https://www.cicero.de/innenpolitik/deradikalisierung-wien-islamismus-niederlande-gefaengnisse-seyran-ates veröffentlicht.

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Der Kampf muss gegen den politischen Islam geführt werden

EIN GASTBEITRAG VON SEYRAN ATES am 10. November 2020

 

In Wien hat ein Islamist vier Menschen erschossen, obwohl er in einem Deradikalisierungsprogramm war. Seyran Ates zweifelt den Nutzen bestehender Programme an. Sie schreibt, der Kampf gegen Islamismus müsse viel früher beginnen.

Wie sehr hasse ich diesen Moment, wenn ich mir auf die Zunge beißen muss, um nicht zu sagen, „das habe ich doch gesagt, dass es in Europa noch viele und sehr schlimme Attentate durch Islamisten geben wird“. Ich hasse diesen Moment nicht wegen der vielen tauben und blinden Politiker und Politikerinnen, sondern wegen der Opfer.

Meine Trauer und meine Wut sind so groß, weil all die entsetzlichen Anschläge absehbar und vor allem – davon bin ich zutiefst überzeugt – abwendbar gewesen wären. Ich weigere mich dem Ruf einiger Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen zu folgen, egal aus welchem Bereich der Politik und Sicherheit sie rufen. Nämlich, dass wir uns an islamistische Anschläge gewöhnen müssen. Diese Menschen sind für mich Mittäter und Mittäterinnen, weil sie ihre Arbeit wirklich nicht gut machen und anderen keine Chance geben, einen Paradigmenwechsel einzuleiten. In diesen Spiegel mag kein(e)r von ihnen schauen.
Niemand ist mehr sicher

Die Illusion, dass es einen selbst nicht erwischen würde, ist also nun geplatzt, und die Realität hat manch einen Leugner der Gefahren durch den politischen Islam eingeholt. Angetrieben vom Dominoeffekt der jüngsten grausamen terroristischen Akte in Paris und Nizza ist die Hauptstadt Österreichs nicht verschont geblieben. Die Wahrheit ist, dass die verübten Anschläge im Herzen Europas bewiesen haben, dass niemand mehr sicher ist und dass unser Vertrauen in unsere Sicherheitsdienste ein weiteres Mal beschädigt wurde.

Ich glaube bei aller berechtigten Kritik dennoch nicht daran, dass ein simples Versagen unserer Sicherheitsapparate allein verantwortlich für die jüngsten Entwicklungen war. Ganz im Gegenteil. Der Weg zu einem radikalisierten, handlungsbereiten Islamisten ist lang und mühsam und beginnt mit der Umarmung des politischen Islams. Ein Islam, der durch die Geißeln des Islamischen Staates und der Muslimbruderschaft propagiert wird, eine strategische Aktivität, die sich über ganz Europa ausbreitet. Es ist ein Prozess, der Zeit und Ressourcen erfordert und deshalb endlich, Ross und Reiter nennend, gezielt angefochten werden muss.
Extremisten nähren sich von Ängsten der Bevölkerung

Genau an dieser Stelle kommen beispielsweise Gefängnisse ins Spiel, vergleichbar mit Maßnahmen zu der aktuellen Covid-19-Pandemie, die Menschen in ihren Wohnräumen wie Tiere in einem Käfig isoliert. Radikale politische und ideologische Gruppen nähren sich meist von den Ängsten der Bevölkerung und nutzen ihren Ärger und ihre Unzufriedenheit über die Gesellschaft zu ihrem Vorteil, um tickende Zeitbomben zu schaffen, die jederzeit einsatzbereit sind.

Diese Erkenntnisse sind alle nicht neu. Doch was ist danach jetzt zu tun? Wie die jüngsten Ereignisse gezeigt haben, neigen viele Menschen dazu, solchen Situationen zuzusehen und den Schmerz darüber zu ertragen, statt dagegen zu handeln. Seit 9/11 ist in diesem Bereich viel über Deradikalisierung gesprochen worden, aber mit welchem Effekt? Und wie geht es nach diesen Tragödien weiter?
Gefängnisse sind Brutstätten der Radikalisierung

Nicht nur in politischen Kreisen ist seit Langem bekannt, dass Gefängnisse sich als Radikalisierungs- und Rekrutierungszentren für Anhänger des politischen Islams wie die Muslimbruderschaft sowie für terroristische Organisationen wie Al-Qaida und den Islamischen Staat erwiesen haben. Und obwohl das Wissen vorhanden ist, werden von den Behörden keine nachhaltigen nennenswerten Maßnahmen ergriffen.

Betrachtet man die meisten der jüngsten Terroranschläge, so waren die Angreifer den Behörden gut bekannt. Sie hatten Vorstrafen, die sie in direktem Zusammenhang mit dem Terrorismus und dem Islamischen Staat brachten, und die meisten waren gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden.
Das Problem sind nicht die Sicherheitsbehörden

Der Wiener Täter hätte nach dem Absitzen der Haft ganz unabhängig davon, ob er frühzeitig entlassen wurde oder nicht, weiter überwacht werden sollen. Das wurde er aber nicht. Natürlich kann man argumentieren, dass er die Justiz durch vorgetäuschtes gutes Benehmen dazu gebracht hat, vorzeitig entlassen zu werden.

Ganz unabhängig davon, ob man sich die „getäuschten“ Personen mal genau anschauen sollte, sehe ich das Problem aber ganz woanders. Das Problem ist das gesamte Konstrukt, das für seine angebliche Reintegration verantwortlich war.
Islamisten und Rechte haben fast die gleiche Ideologie

Meiner Meinung nach haben uns die letzten Anschläge leider nur einen Vorgeschmack darauf gegeben, was mit hoher Wahrscheinlichkeit noch kommen wird. Der islamistische Terror in Europa hat seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht. Viele Straftäter, die in Verbindung mit oder Teil eines terroristischen Netzwerks waren, befinden sich noch im Gefängnis, aber eine Vielzahl von ihnen steht kurz vor der Freilassung. Personen, die höchstwahrscheinlich den gleichen oder einen ähnlichen Deradikalisierungsprozess durchlaufen haben wie der Wiener Attentäter selbst.

Eine magische Formel für Deradikalisierung gibt es meiner Meinung nach nicht, aber die rechtlichen Grundlagen rund um die Haft dieser Täter müsste den Experten mehr Zeit verschaffen, um sich adäquat mit den individuellen Fällen auseinandersetzten zu können. Zum Beispiel könnte es hilfreich sein, sich Deradikalisierungsmaßnahmen bei Rechtsradikalen anzuschauen, die sich über viele Jahrzehnte durchaus bewährt haben. Denn die Ideologie der Islamisten ist nahezu identisch mit der Ideologie der radikalen Rechten.
Die Deradikalisierung liegt in der Hand fragwürdiger Partner

Mir ist bewusst, dass ich hier nichts Neues erzähle. Für manch einen scheint das leider dennoch neu zu sein. Der von mir sehr geschätzte Psychologe Ahmad Mansour hat es so ausgedrückt: „Resozialisierung ist eine Konfrontation mit dem, was diese Menschen getan haben, und gibt ihnen die Chance, sich selbst zu deradikalisieren. Wenn nicht, werden wir in ein paar Jahren Dutzende von Rückkehrern auf freiem Fuß haben, und wir können nicht garantieren, dass sie nicht mehr radikal sein werden. Und das bedeutet ein riesiges Sicherheitsrisiko für die Menschen.“

Ein Risiko, das durch die mangelnde Kontrolle unserer Regierungen in der Umsetzung der Deradikalisierungsprogramme erhöht wird. In den meisten Fällen, so auch in Deutschland, sind unsere Behörden bei der religiösen Seelsorge in Gefängnissen komplett von externen Kooperationspartnern und religiösen Verbänden abhängig. So werden auch die Gefängnisimame und muslimischen Seelsorger nicht vom Staat, sondern von externen Akteuren ausgebildet, was auch den Inhalt des Prozesses offen für individuelle Interpretation lässt.
Kooperationspartner nutzen das Vertrauen des Staates aus

Ein gefährlicher Ansatz, wenn Sie mich fragen, vor allem da bereits mehrfach bewiesen wurde, dass unser Vertrauen in solche Kooperationsprojekte willkürlich ausgenutzt worden ist, und zwar als Teil einer ausgeklügelten Radikalisierungsstrategie. Und eins ist sicher, an diesen fragwürdigen Partnern mangelt es natürlich nicht.

Zu nennen wären beispielsweise die „Arbeitsgemeinschaft Muslimische Gefängnisseelsorge e.V.“ und ihre Verbände wie die „Initiative Berliner Muslime“ und die „Islamische Föderation in Berlin e.V.“, die 2016 unter Verdacht gerieten, in Verbindungen zur Muslimbruderschaft beziehungsweise der türkisch-islamistischen Mili-Görus Bewegung zu stehen, woraufhin die Zusammenarbeit unterbunden worden ist.
Nur jeder 3. Gefährder ist aus Syrien zurückgekommen

Auch im Fall des Deutsch-Islamischen Vereinsverbands (DIV), der zum hessischen Landesverband des Zentralrats der Muslime (ZMD) gehört und der aktiv an der Seelsorge von Muslimen in Gefängnissen beteiligt war, wurde dem Verfassungsschutz klar, dass es eine Verbindung zum im Frankfurter Ostend ansässigen Europäischen Institut für Humanwissenschaften gibt, das auch dem Netzwerk der Muslimbrüder angehört.

Viele Menschen beschweren sich gerade über die vorzeitige Freilassung des Wiener Angreifers Ende 2019, und das ist auch richtig so. Dennoch müssen wir an diesem Punkt den Blick auf das ganze Bild, die Zukunft und die bevorstehenden Probleme richten. Nach Auskunft des Bundeskriminalamtes (BKA) saßen zu Beginn 2018 circa 150 islamistische Gefährder in deutschen Gefängnissen, was nur einen Bruchteil der ungefähr 1.000 Islamisten ausmacht, die in Richtung Syrien/Irak gereist waren. Bislang sind von diesen nur ein Drittel zurückgekehrt, und es wird angenommen, dass der verbliebene Rest in der Türkei „untergetaucht“ ist.
Die Niederlande als Vorbild

Auch in unseren Nachbarstaaten gibt es derzeit eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert worden sind und mit denen wir uns jetzt auseinandersetzten werden müssen, um weitere Tragödien zu vermeiden.

Kommen wir zu Lösungsvorschlägen und Anregungen. Wir könnten uns ein Beispiel an effektiven Deradikalisierungsprogrammen in anderen Ländern wie den Niederlanden nehmen. Dort versuchen Sozialarbeiter, die Extremisten aus der Szene zu lösen, indem sie ihnen bei der Jobsuche oder beim Umzug helfen. Europas Politik muss zusammenarbeiten und der Radikalisierung mit Maßnahmen der Prävention und Intervention begegnen, nicht mit einem Ansatz der Segregation und Islamfeindlichkeit. Denn es gilt weder Migranten und Migrantinnen noch Muslime oder Musliminnen zu bekämpfen.
Der Kampf muss gegen den politischen Islam geführt werden

Der Kampf muss gegen den politischen Islam geführt werden. Das schließt nicht nur die radikalen muslimischen Gemeinschaften und Organisationen wie die Muslimbruderschaft ein, sondern auch Mitglieder der extremistischen Rechten. Ansonsten laufen wir nur Gefahr, einen Prozess der Stigmatisierung zu entfalten.

Der Schwerpunkt unserer Bemühungen in Sachen Deradikalisierung muss sich auf das Verständnis von Ideologien und Sozialpsychologie konzentrieren. Parallel sollte mithilfe institutionalisierter Organe die spirituelle und friedliche Vielfalt im Islam und Koexistenz liberaler Muslime und konservativer Muslime gefördert werden.
Radikalisierung äußert sich nicht erst in Gewalt

Die Akzeptanz unserer demokratischen und säkularen Werte sollte nicht zur Disposition gestellt werden. Keine „religiöse“ Gruppe darf sich auf die Religionsfreiheit berufen, wenn sie danach strebt, die Religionsfreiheit der anderen abzuschaffen.

Es liegt auf der Hand, dass Radikalisierung nicht erst eine Gefahr darstellt, wenn es sich um Gewaltäußerungen handelt, sondern bereits dann, wenn radikale Ideen den sozialen Zusammenhalt untergraben und die Polarisierung der Gesellschaft fördern. Eine Wahrheit, die hoffentlich immer mehr Gehör findet, bevor es zu spät ist. Wie gesagt, ich hasse diese Momente, in denen ich sagen muss „Ich habe es gesagt. Der politische Islam ist eine Gefahr für unser friedliches und freies Europa“.

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