Die Muslimbruderschaft

Die Muslimbruderschaft

Autor: Massud Reza

Muslim Brotherhood [Public domain]Islamismus ist ein zentrales Thema der letzten Jahre und vielleicht sogar Jahrzehnte in Deutschland und in Europa. Dabei geht es um eine politische Ideologie, die es sich zum Ziel gesetzt hat Staat und Gesellschaft vollständig zu islamisieren. Vor dem Hintergrund des globalen islamistischen Terrorismus werden viele staatliche Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheitslage in Deutschland zu erhöhen. Erschreckende Bilder aus (sozialen) Medien belegen die bestialische Brutalität, die viele Islamisten in Kriegsschauplätzen in Syrien oder in Afghanistan vor Augen führen. Um solche Gruppierungen wirksam abzuwehren, da sie teilweise auch Anhänger in Deutschland und in Europa haben, werden wie bereits erwähnt, seitens des Staates sicherheitspolitische Entscheidungen getroffen.

Zu diesen sicherheitspolitischen Vorkehrungen fallen einem sofort Stichworte ein, die immer wieder den politischen Diskurs um dieses Thema bestimmten: Aufstockung von Polizei und Bundeswehr, Sicherung der bundesdeutschen und der EU-Außengrenzen, schnellere Abschiebungen von mutmaßlichen Gefährder, Vorratsdatenspeicherung und vielem mehr. Interessanterweise wird der Fokus sehr stark auf einen Islamismus dschihadistischer[1] Prägung gelegt, also einem gewaltbereiten Islamismus. Ein Islamismus, der sein anvisiertes Ziel der Verwirklichung einer theokratischen Gesellschaft als eine „heilige Mission“ versteht, die er in der Bekämpfung der „Ungläubigen“ umsetzen will.

Das sehr angsteinflößende und barbarische Bild vom militanten Islamismus, welches eine gewaltbejahende Ideologie beinhaltet und jeden tötet, der sich ihr widersetzt, kann eine sehr wichtige Tatsache überschatten: Es gibt auch einen gewaltverneinenden Islamismus! Und dieser Islamismus stellt in seiner Besonderheit ein anderes Gefahrenpotential für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft dar. Um sich aber des Phänomens anzunähern, ist man nicht schlecht beraten, wenn zunächst die Mutterorganisation des heutigen, weltweiten Islamismus beleuchtet wird: Die Muslimbruderschaft.

Der Gründung der Muslimbruderschaft fand in der ägyptischen Stadt Ismailiyya im Jahre 1928 auf Betreiben von Hassan al-Banna statt. Wir befinden uns in einer Zeit, in der Ägypten noch unter dem Einfluss von westlichen Kolonialisten stand, die in ihrer Herrschaftszeit auch Werte exportierten und durchsetzten. Diese empfand Hassan al-Banna als eine Bedrohung der „islamischen Identität“ Ägyptens und engagierte sich fortan in unterschiedliche Gruppierungen und sozialen Einrichtungen, um über den Bildungsweg islamische Werte zu unterrichten und diese auch vehement zu schützen. Erziehung und Bildung galten vorweg als die entscheidenden Schlüsselwege, um eine islamisch geprägte Gesellschaft zu erhalten. Insbesondere die öffentliche Moral bildet einen wichtigen Umstand im Denken al-Bannas bzw. der Muslimbruderschaft, worauf ich noch eingehen werde. Bereits an dieser Stelle können wir aber etwas Wichtiges erkennen: Bisher lehnt die Organisation vorrangig Gewalt als Mittel ihrer Politik ab und versucht sich mittels des Bildungs – und Erziehungswegs an die Gesellschaft zu wenden, ihnen islamische Tugenden zu vermitteln, um dann als muslimisch geprägte Gesellschaft von sich aus nach einem islamischen Staat zu rufen. Somit ist soziale Basisarbeit eine ausschlaggebende Arbeitsweise, sich Muslimen wie Nichtmuslimen anzunähern und sie muslimisch (um)zu erziehen.

Statt wie gewaltbereite Islamisten von oben die Ideologie der Bevölkerung aufzupfropfen, halten sie den Weg von unten für angemessener. Dass sie sich aber nicht davor scheuen, auch Funktionen von „oben“, also hier verstanden als einflussreiche politische Positionen einzunehmen, soll noch verdeutlicht werden.

Zwar unterhielt die Muslimbruderschaft zu jener Zeit in Ägypten einen militaristischen Geheimapparat, der auch in der Auseinandersetzung mit dem ägyptischen Staat in den 1940er Jahren zum Einsatz kam, jedoch setzten die Muslimbrüder nach ihren (Folter-)Hafterfahrungen zunehmend auf den gewaltlosen Weg, um das Ziel einer islamischen Gesellschaft zu realisieren. Doch was stellt sich diese Gruppierung als islamische Gesellschaft eigentlich vor? Wie sieht ihr Islamverständnis aus?

Tatsächlich werden formale Demokratieprinzipien nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern mit dem Islam als kompatibel erachtet. Der Gedanke einer Volkssouveränität begrüße man, solange das Bezugssystem die Scharia sei. Scharia als Rechtsordnung verstanden, soll sämtliche gesellschaftliche Lebensbereiche umfassen, was den absoluten Totalitätsanspruch der Muslimbrüder unterstreicht. Ein muslimischer Herrscher muss in den Augen der Muslimbrüder keine umfassende Islambildung erfahren haben, so kann er auch ein einfacher Laie sein. Sollte er aber gegen Prinzipien der Scharia verstoßen, bedarf es seiner Absetzung durch das Volk.

Moralische Scharia-Vorschriften wie man sie in Koran und Sunna findet, seien laut den Recherchen Annette Rankos buchstäblich umzusetzen. Konkreter ausgedrückt: „[…], denn sie sei der unantastbare Kern der islamischen Identität […].“[2] Wie das in der Gesellschaft auszusehen hat, kann man an die Rolle der Frau illustrieren. Sie sei vor allem für die Erziehung verantwortlich und habe zudem noch häusliche Pflichten zu erfüllen. Wie Ranko darlegt, habe die Frau, laut der Muslimbruderschaft, ein „verletzlicheres Schamgefühl“ als der Mann und: „Aus diesem Grund zieme es sich für die Frau, lediglich Gesicht und Handflächen zu zeigen – das heißt, ein Kopftuch zu tragen und mit ihrer Kleidung den Körper bis auf die Hände bedeckt zu halten. Auch der allzu offene Kontakt mit Männern im öffentlichen Raum soll vermieden werden.“[3] Auch die Buchautorin Mona Elthawy kann diesen Punkt unterstreichen, da sie über ihre Begegnung mit dem obersten Führer der Muslimbruderschaft in ihrem Buch „Warum hasst ihr uns so?“ folgende Situation skizziert: „Er bekräftigt nochmals, die Muslimbruderschaft glaube an Pluralismus und Inklusion, und erklärte mir Folgendes:

‚Der Beweis dafür ist, dass Sie hier sitzen und mich interviewen, obwohl Sie unbekleidet sind.‘

‚Ich bin nicht unbekleidet.‘

‚Ihre Haare sind unbedeckt, Ihre Arme sind unbedeckt – nach den Gesetzen Gottes sind Sie unbekleidet.‘

‚Die Koranverse sind bezüglich der Kleiderordnung der Frauen verschieden interpretiert worden‘, widersprach ich.

‚Hören Sie nicht auf die, die sagen, der Hidschab sei nicht verpflichtend. Es gibt keine verschiedenen Interpretationen. Es gibt nur eine Interpretation, und nach dieser Interpretation sind Sie nackt.‘ So viel zum Pluralismus.“[4]

Entscheidend für diese Islamisten sind die Beziehungen zwischen den Geschlechtern im öffentlichen Raum. Vermieden werden sollte der offene Kontakt mit nichtverwandten Männern. Die Muslimbruderschaft würde aber anders als andere erzkonservative bis reaktionäre Muslime die Frau nicht aus dem Berufsleben ausschließen, sofern sie nicht ihre mütterlichen Pflichten vernachlässigt und einen Beruf ausübt, der zu ihrer „weiblichen Natur“ passt, sprich, Kindergärtnerin oder Lehrerin. Auch dürfen Frauen politische Rechte für sich in Anspruch nehmen, wie z.B. die Gründung einer Partei. Annette Ranko schreibt außerdem: „Die Rechte von Frauen werden also immer dann beschnitten, wenn sie sich auf den kulturellen und moralischen Bereich beziehen und mit konservativen islamischen Moralvorstellungen kollidieren.“[5] Ein freies, selbstbestimmtes Dasein darüber, wie man sich gern kleidet und anderen begegnet, sieht freilich anders aus.

Wie die rechtsradikale Identitäre Bewegung fürchtet auch die Muslimbruderschaft in islamischen Ländern eine „kulturelle Überfremdung“, hingegen aus dem westlichen Kulturraum, was beispielsweise den modernen Film – und Musikkonsum betrifft und primär Werte, die nicht mit dem von ihrem postulierten Islamverständnis konform gehen. Im ähnlichen Tenor wie bei europäischen Rechtsradikalen finden sich auch verschwörungstheoretische Momente in ihrem Denken wieder: „Ziel sei es, so behauptet die Muslimbruderschaft, die islamische Moral und den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft zu zerstören, um schließlich die Unterwerfung dieser Gesellschaft zu vereinfachen.“ Folgerichtig dürfen sich auch Muslime in nichtislamischen Ländern den demokratischen Prinzipien wie Gleichberechtigung der Geschlechter und Selbstbestimmung nicht annähern. Weiter oben sprach ich von der Akzeptanz formaldemokratischer Prozesse seitens der Muslimbrüder und nicht von den demokratischen Werte, die in meinen Augen unverzichtbar für eine freiheitliche Demokratie sind. Ihre ideologische Grundausrichtung findet sich in ihren eigenen Worten wieder: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.“

Auch der Antisemitismus war und ist ein zentraler Bestandteil ihrer politischen Ideologie. Wie der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel beschreibt, gab es antisemitische Kampagnen seitens der Muslimbruderschaft: „Auslöser war der 1936 vom Mufti von Jerusalem gegen die jüdische Einwanderung initiierte Aufstand in Palästina. „Nieder mit den Juden“ und „Juden raus aus Ägypten und Palästina“ lauteten die Parolen der Massendemonstrationen, die die Bruderschaft daraufhin in den ägyptischen Großstädten organisierte. Auf Flugblättern rief sie zum Boykott jüdischer Waren und Geschäfte auf. In ihrer Zeitschrift al-Nadhir wurde eine regelmäßige Kolumne mit der Kopfzeile: „Die Gefährlichkeit der Juden von Ägypten“ etabliert. Darin wurden die Namen und Adressen von jüdischen Geschäftsinhabern und Besitzern angeblich jüdischer Zeitungen aus aller Welt veröffentlicht und alles Böse – vom Kommunismus bis zum Bordell – auf die „jüdische Gefahr“ zurückgeführt.“[6]

Das waren nur einige wenige Punkte ihrer Ideologie auf die ich eingegangen bin, dabei kann man noch viel mehr erzählen, wie z.B. die gesellschaftliche Stellung von Nichtmuslimen in ihren anvisierten Staat, die keine vollen Rechte genießen dürfen und bestimmte Sondersteuer abdrücken müssen und vielem mehr. Nun möchte ich darauf eingehen, dass die Muslimbruderschaft sehr taktisch vorgeht, indem sie in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Institutionen Einfluss ausüben möchte. Wie die Ursprungsorganisation in Ägypten sind ihre vielen Ableger in über 70 Ländern politisch aktiv, wie z.B. die Ennahda-Partei in Tunesien oder die Hamas im Gaza-Streifen. Obwohl es sich bei der Hamas um eine militante, gewaltbereite islamistische Bewegung handelt, wird diese von der Muslimbruderschaft unterstützt, weil sie den bewaffneten Kampf gegen Israel als legitim erachten.

An politischen Prozessen wird sich aus strategischen Gründen beteiligt, dazu der Orientalist Michael Kreutz: „Im Unterschied zu ihrem Gründer Ḥasan al-Bannā lehnt die MB heute das Parteiwesen (ḥizbiyya) nicht mehr ab. Ihr Verhältnis zur Demokratie ist jedoch ein taktisches, propagiert sie doch die Scharia als „höchste Verfassung‟. Zudem soll der „demokratische Weg‟, den sie angeblich verfolgt, auf Basis der šūra (Beratung) erfolgen, was keinen Raum für eine unabhängige Rechtsprechung lässt. Da rechtsstaatliche Strukturen, die ihr die Freiheit der Agitation ermöglichen, in ihrem Sinne sind, hat der Gewaltverzicht der MB durchaus Plausibilität.“[7]

So möchte sie einen stärkeren Einfluss auf Staat und Gesellschaft ausüben. Die Relevanz dieser Bewegung ist deshalb besonders hervorzuheben, weil ihre Ableger auch teilweise in islamischen Dachverbänden, wie dem Zentralrat der Muslime organisiert sind, wie z.B. die „Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V.“ über die der Verfassungsschutz in ihrem letzten Bericht schreibt: „Ziel der DMG ist es unter anderem, gegenüber Politik, Behörden und zivilgesellschaftlichen Partnern als Ansprechpartner eines gemäßigten, weltoffenen Islam in Erscheinung zu treten. Sie verfolgt eine an der MB-Ideologie ausgerichtete Strategie der Einflussnahme im politischen und gesellschaftlichen Bereich. Bei öffentlichen Auftritten werden Bekenntnisse zur MB und verfassungsfeindliche Äußerungen vermieden. Zahlreiche Verbindungen zwischen hoch-rangigen DMG-Funktionären und namhaften ausländischen Muslimbrüdern verdeutlichen jedoch die Zugehörigkeit der Organisation zum weltweiten MB-Netzwerk.“[8]

Das eingangs erwähnte Gefahrenpotential einer solchen Organisation ist dahingehend zu bewerten, dass es sich bei vielen von ihnen um Wölfe im Schafspelz handelt, die ihre wahren Ziele nicht sofort preisgeben. Sie werden daher auch als „legalistisch-islamistische“[9] Organisation im Fachjargon erwähnt, weshalb ein Vorgehen gegen sie gar nicht so einfach ist. Aufgabe einer kritischen Gesellschaft muss es letztlich sein, Aufklärungsarbeit über diese Form des Islamismus zu leisten, ihre Ideologien, Strukturen und länderübergreifende Netzwerke zu beleuchten und mehr Menschen, insbesondere die Politik zu erreichen, damit der Muslimbruderschaft keine Bühne mehr für ihre politischen Ziele gegeben werden kann und man ihnen dadurch den Wind aus den Segeln nimmt.

[1] Es gibt Muslime wie auch Nichtmuslime, die unter diesen Begriff einen ausschließlichen Angriffskrieg gegen „Ungläubigen“ verstehen. Andere Muslime verstehen darunter einen Verteidigungskrieg und wieder andere sehen das Prinzip des Dschihads als obsolet an. Aufgrund der zig Verständnisse dieses einen Begriffs, verzichte ich auf eine theologisch-historische Aufarbeitung, da er ohnehin hier im Blogbeitrag nicht weiter Gegenstand der Debatte wird.

[2] Ranko, Annette (2014): Die Muslimbruderschaft. Porträt einer mächtigen Verbindung. Edition Körber-Stiftung: Hamburg, S. 77

[3] Ebd. S.86

[4] Eltahawy, Mona (2016): Warum hasst ihr uns so? Für die sexuelle Revolution der Frauen in der islamischen Welt. Piper Verlag: München/Berlin, S.46-47

[5] Ranko, Annette (2014): Die Muslimbruderschaft. Porträt einer mächtigen Verbindung. Edition Körber-Stiftung: Hamburg, S. 87

[6] Küntzel, Matthias (2007): Islamischer Antisemitismus und Deutsche Politik. ‚Die Juden werden brennen. Wir werden auf ihren Gräbern tanzen.‘ Lit Verlag: Berlin. S. 15-16.

[7] https://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/286322/die-muslimbruderschaft

[8] https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2018.pdf, S.221

[9] Dazu der bayrische Verfassungsschutz: Die meisten Islamisten in Deutschland lehnen es ab, Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele anzuwenden. Nicht-gewaltorientierte, sogenannte legalistische islamistische Gruppen verfolgen ihre extremistischen Ziele mit politischen Mitteln innerhalb der bestehenden Rechtsordnung., https://www.verfassungsschutz.bayern.de/islamismus/definition/erscheinungsformen/legalistischer_islamismus/index.html

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