Die beiden Blickwinkel des Koran

26.03.2021

Die beiden Blickwinkel des Koran

Wenn wir den Koran näher betrachten, stellen wir fest, dass es zwei Aspekte sind, die Gott uns durch den Propheten Muhammad ans Herz legt: da ist zuerst der individuelle, ans Herz gelegte Aspekt und der an alle, an die Gemeinschaft gehende Aspekt. Davon habe ich in den beiden letzten Predigten schon gesprochen. Jetzt möchte ich beide gegenüberstellen.
Lassen wir den Koran sprechen. In der 35.Sure al-Fatir, der Schöpfer, Vers 18 können wir lesen: „Und wer sich reinigt, der reinigt sich nur zu seinem eigenen Vorteil; und zu Allah ist die Heimkehr.“
Ähnlich klingt es in der 91.Sure Asch-Schams, die Sonne, Verse 7-10: „Und bei einer jeden Seele und bei Dem, Der sie gebildet und ihr den Sinn für ihre Sündigkeit und für ihr Gottesbewusstsein eingegeben hat! Wahrlich, erfolgreich ist derjenige, der sie rein hält, und wahrlich, versagt hat derjenige, der sie verkommen lässt.“
Wer sich reinigt, das ist der, der sich in die Obhut Gottes begibt, sich ihm hingibt. Denn Gott ist derjenige, der abrechnet und vergibt. Er lässt keine gute Handlung verlorengehen, aber auch keine schlechte. Hier wird eigentlich nur ein Aspekt angesprochen, der sich wie ein roter Faden durch den ganzen Koran zieht und dementsprechend die wichtigste Aussage beinhaltet. Keinem anderen überlässt Gott das Urteil oder die Vergeltung, zum Guten oder Schlechtem. Und es wird die bewusste Fähigkeit zur freien Willensentscheidung des Menschen angesprochen. Ich denke, Gott gibt jedem Menschen seiner Möglichkeit entsprechende Aufgaben, lässt ihn aber nicht allein, sondern lässt ihn einen Weg erkennen, den er einschlagen kann oder nicht. Wenn es im Koran um Pflichten und Gebote geht, so sind sie in den Geboten der Ethik integriert, also Verhalten gegenüber den Mitmenschen, in der Gemeinschaft. Es wird also nicht ausgesagt, dass der Mensch gezwungen wird, sich den menschengemachten islamischen Pflichten zu unterstellen oder sich in einer anderen religiösen Strömung zu begeben. Gott bietet dem Menschen lediglich Seine Liebe und Barmherzigkeit an, in Seine Gemeinschaft einzutreten. Und Seine Gemeinschaft, das sind alle Leute, die an Ihn glauben. Aber Er macht es nicht zur Pflicht. Dennoch gilt Seine Barmherzigkeit für jeden, denn Er ist auch der Allbarmherzige.
Gott rechnet also ab über richtige und falsche Handlungen, gute oder schlechte, er allein. Aber wie kann das sein, wenn Menschen Gottes Bestimmungen nach ihrem eigenen Verständnis umformen, bestimmen, was recht und was falsch ist, so, wie sie es brauchen? In der letzten Predigt habe ich schon dafür die Verse der Sure 16, Al-Nahl, die Biene Vers 25 erwähnt: „Deshalb sollen sie (die Gläubigen) am Tag der Auferstehung ihre eigene Last vollständig tragen, und einen Teil von der Last derer, die sie ohne Wissen irregeführt haben. Übel ist fürwahr die Bürde, die sie zu tragen haben.“ Nicht diejenigen, die man in Unwissenheit hält, sind diejenigen, die Gott zur Rechenschaft ziehen wird, sondern diejenigen, die sie in Unwissenheit halten, also ihre Prediger mit ihren schlechten Anweisungen und die diese Gesetze erst ermöglichen.
Dennoch ist jeder Gläubige selbst verantwortlich, den von Gott gegebenen Auftrag so gut es geht und mit dem Herzen zu erfüllen, keiner kann ihm den Auftrag abnehmen. Und das geht nur in ständiger Auseinandersetzung mit sich selbst, mit Selbstreflexion, Selbstverantwortung. Der Koran hilft ihm dabei, er erinnert ihn an Pflichten und Gebote, die die Ethik im Blickpunkt hält und gibt ihm Hinweise, jedoch keine spezielle Rezepte, da jeder Mensch verschieden ist mit individuellen Stärken und Schwächen, die er selbst am besten erkennen und verbessern kann. Jeder ist eben etwas ganz Besonderes.
Mouhanad Khorchide schreibt dazu: „Das Herz ist deshalb Ziel religiöser Verkündigung, weil es einerseits das Medium ist, das mit Gott kommuniziert, ihn erkennt und in seine Gemeinschaft zurückkehrt, andererseits, weil es der Schauplatz der Austragung von Normenkonflikten, der Suche nach dem rechten Weg der ‚richtigen‘ Entscheidung und des Handelns ist. Durch die ständige Selbstreflexion soll der Mensch von der Selbstrechtfertigung befreit sein, um auf diese Weise seine Verfehlungen selbst zu erkennen und an ihnen zu arbeiten.“ Dazu passen die Verse 14-15 aus der 75. Sure Al-Qiyama, die Auferstehung: „Nein, der Mensch ist Zeuge über sich selbst, auch wenn er keine Entschuldigungen vorbringt.“
All diese Anstrengungen, die Suche nach dem rechten Weg, der richtigen Entscheidung und des Handelns – das sind unsere heutigen Regeln eines humanistischen Verhaltens – Normen unserer heutigen Ethik. Nicht umsonst hat Mouhanad Khorchide sein Buch „Scharia – der missverstandene Gott“ mit dem Untertitel: „Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik“ genannt.
Am Anfang habe ich von zwei Aspekten gesprochen. Mit den folgenden Versen aus der 3. Sure Verse103-104 möchte ich zu dem 2. Aspekt übergehen: „Und haltet euch allesamt fest am Seil Allahs und zersplittert euch nicht und gedenkt der Gnade Allahs, die Er euch erwiesen hat, als ihr Feinde wart und Er eure Herzen in Liebe vereinte, sodass ihr durch Seine Gnade zu Brüdern wurdet. Damals wart ihr am Rande einer Feuergrube und Er errettete euch daraus. So macht Allah euch Seine Zeichen klar, damit ihr vielleicht rechtgeleitet werden möget.“ Gott erinnert seine damalige jüdische Zuhörerschaft, die Stämme der ‚Aus und Khazradsch, an ihr Leben in ständigem Zwist und Feindschaft und an ihre blutigen Stammeskämpfe gegeneinander. Das menschliche Leben galt nichts. Der Feuersbrunst des Hasses und der Feindschaft aller Araber setzte Gott ein Zeichen durch den Koran entgegen. Ihr Wunsch nach Frieden führte sie zur Einladung des Propheten Muhammad und seiner Brüder aus Mekka mit dem Ergebnis der gegenseitigen Achtung und späteren Annahme des Islam.
Während dieser Vers an ihre Verantwortung als Individuum erinnert, spricht der kommende Vers über ihre kollektive Verantwortlichkeit. Hier tritt der Koran an die Gesellschaft als Kollektiv heran und erinnert sie an die Aufforderung, eine gerechte Gesellschaftsordnung herzustellen. Diese Erteilung des Auftrages kann man in der 3.Sure, Vers 104 nachlesen: „Aus euch soll eine Gemeinschaft entstehen, die zum Guten ruft und gebietet, was Recht und verbietet, was Unrecht ist.“
Beide Verse könnte Gott auch heute noch ausrufen. Wieviel Leid hat dieser unselige Bruderkrieg in Jemen den Menschen gebracht und bringt immer noch. Gott spricht jeden einzelnen Kämpfer an und sie als Gesellschaft ebenso. Und das gilt nicht nur für
Eine Gesellschaft besteht aus vielen Einzelpersonen mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften. Um sie zu einem Ziel zusammenzubringen, braucht es Regeln, also legitime, rechtliche, gesetzliche Maßnahmen. Diese Regeln ergeben sich aus dem Text, was die Propheten übermittelt haben für alle Zeit und jeden Ort. Je nach Kontext und Zeit müssen sie angepasst werden. Diese Regeln müssen vor allen Dingen verständlich sein, um sie überhaupt realisieren zu können. Gott sagt das so: „Für jeden von euch haben Wir Richtung und Weg bestimmt.“ (5.Sure al-Ma’ida, der Tisch:48)
Das heißt also, dass jede durch Propheten gesandte Botschaft dieselbe ist, jedoch einen anderen Weg zur Realisierung braucht, da sich die Aspekte des Lebens der Gesellschaften einem steten Wandel unterliegen. Das bedarf natürlich ein dialogisches
Verständnis und Realisierung in der Gott-Mensch-Beziehung.
Ich fasse das bisher Gesagte zusammen: Die Scharia umfasst zwei Blickwinkel, einmal die Gott-Mensch-Beziehung als Liebes- und Vertrauensbeziehung als der Weg des Herzens, begünstigt in einer gerechten Gesellschaftsordnung. Denn das Herz bemüht sich seinerseits um Mitwirkung in einer gerechten Gesellschaft, so wie die Ordnung ihrerseits wohlwollend Bedingungen dafür schafft. Mouhanad Khorchide meint dazu: „Für diesen Weg gibt es keine konkreten Rezepte. Gott, Mensch und Gesellschaft müssen vielmehr im ständigen Dialog bleiben, in dem es allerdings nicht um Gott geht, sondern um den Menschen selbst.“
Da geht es nicht um: „Was will Gott?“ oder: „Was will der Mensch?“ Es geht in der Beziehung Gott und Mensch nur darum, dass Gott das will, was dem Menschen gut tut. Das ist das Hauptprinzip: Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für jeden Menschen kann aber nur existieren, wenn auch seine Würde unantastbar ist, seine Freiheit, Gleichheit, soziale Verantwortlichkeit, gepaart mit Barmherzigkeit, garantiert ist.
Der zweite Blickwinkel unterscheidet sich gewaltig von dem eben genannten. Die Gott-Mensch-Beziehung wird zwischen einem Befehlsgeber und einem Befehlsempfänger, zwischen Gott als Machthaber und der Mensch als Diener, zwischen einem orthodoxen Gelehrten und einem in Unwissenheit gehaltenen Muslim – auf der Basis einer Scharia als Anhäufung von Befehlen bzw. Gesetzen, die nicht durch Gott, sondern von außen aufgestellt durch Menschen. Sie müssen unhinterfragt befolgt werden, ansonsten droht zusätzlich zu menschlicher Strafe, auch verordnete göttliche Strafe. Die Befehle werden dem Muslim so suggeriert, dass davon seine Hoffnung auf Gottes Gnade abhängt.
Auf der einen Seite nur die Hoffnung auf die Gnade Gottes und Hoffnung auf das Eingehen ins Paradies und auf der anderen Seite das Spüren Gottes Liebe in Seiner Gemeinschaft, das ist wohl ein großer Unterschied: Gehe ich mit einem selbstverständlichem Lächeln und Kopf hoch oder ängstlich und niedergedrückt durch mein Leben.
Natürlich gilt die Gesellschaftsordnung als ein maßgeblicher Faktor. Beide Gesichtspunkte, einmal die individuelle Gott-Menschbeziehung und die gesellschaftliche, die für eine gerechte Gesellschaftsordnung verantwortlich ist, stehen zueinander in einem Wechselspiel. Der Koran spricht das Vorhandensein einer gerechten Ordnung als Voraussetzung für die Entfaltung des Menschen an.
In der 13. Sure Vers 11 unterstreicht der Koran jedoch, das gesellschaftliche Änderungen erst dann bewältigt werden können, wenn die Menschen zuerst sich selbst verbessert haben. „Gott verändert nicht den Zustand eines Volkes, bis die Menschen nicht das, was in ihrem Inneren ist, selbst verändern.“
Eine Gesellschaft soll jeden Menschen mit einbeziehen, muss ihn aber auch seine Freiheit selbst bestimmen lassen, solange er nicht gegen ihre Gesetze handelt.
Möge Gottes Licht gute Taten für die Menschen bewirken und eure Seele und Herz zur Ruhe kommen lassen.

Manaar

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