Scharia – Der Weg zur Quelle

04.03.2021

Scharia – Der Weg zur Quelle

Ali ibn Abu Talib, der Schwiegersohn und Neffe des Propheten Muhammad soll einmal gesagt haben: „Der Korn spricht nicht von sich aus; die Menschen sind es, die ihn zum Sprechen bringen.“
Der Koran ist ein Dialog zwischen Gott und dem Menschen. Der Mensch fragt und Gott antwortet ihm wieder durch den Koran, bei dem wiederum der Mensch für sich nach Antwort sucht. Daraus folgt für mich, dass Gott jeden einzelnen Mensch ernst nimmt und daher eigentlich im Mittelpunkt der islamischen Religionswissenschaft stehen muss. Aus dem Grund sollte es das Ziel aller Gelehrten und Wissenden sein, dem Muslim einen guten Zugang zu Gott zu verschaffen und zu gewähren. Aber wenn man dabei das Wichtigste, das Herz, vergisst und sich nur auf ein Register von Geboten und Verboten stützt, hat man das, was Gott dem Muslim mit seiner Barmherzigkeit, Liebe, Wissen und Richtlinien eigentlich angedeihen wollte, bewusst oder vielleicht einfach unbewusst, sozusagen unter den Tisch gekehrt.
Ich habe das letzte Mal über den Weg oder die Methode, die ins Herz führt als die eine Methode der Selbsterkenntnis, des Dschihad berichtet.
Aber viele Muslime verbinden das Wort ‚Scharia‘ meist nur mit göttlichen Gesetzen, um über das Einhalten dieser Gesetze zu Gott zu finden.
Bei der Scharia, wörtlich etwa „der Weg zur Tränke oder Quelle“ – wobei Quelle eigentlich Gott bedeutet, also der Weg zu Gott – handelt es sich vielmehr um ein Gemisch von Rechtsvorschriften.
Aber ich denke, Gott lädt durch den Koran den Menschen über sein Herz freiwillig in seine Gegenwart ein, nicht über Gesetze. Und das wird vielfach einfach vergessen oder abgetan. Sie sehen auf ihrem Lebensweg nur Gebote und Verbote, nach denen sie sich richten müssen, bzw. wird es ihnen so suggeriert, ja krass gesagt, sie werden in diese Richtung manipuliert. Es wird ihnen beigebracht, welche Vorschriften sie unbedingt unterlassen sollten, nicht aber warum und was daran so schlecht wäre.
Was ist das Ergebnis? Sie hören nicht mehr auf ihr Herz, ihre Seele. So entsteht eine Scharia, die auf der Basis dieser Gebote und Verbote steht.
Sagt nicht Gott im Koran: „Kein Zwang in der Religion?“ Das heißt: kein Muss an Reglementierung! Gott hat also das Glauben an Ihn nicht zur Pflicht gemacht. wenn Er immer wieder sagt: „O, die ihr glaubt!“ Dann bedeutet das so ungefähr wie: „Glaubt an mich!“ Es ist nur eine Bitte, kein Befehl oder Anordnung. Denn ein Herz kann man nicht befehlen.
Aber es geht ja nicht nur um das Verhalten zu Gott, sondern auch um die Beziehung des Menschen zu anderen Menschen, einer Gemeinde, einem Volk.
Scharia ist der Weg über das Herz zu Gott und zu den Menschen mit einer islamischen Ethik. Und die Normen eines guten Benehmens und in den Beziehungen der Gemeinschaft der Menschen sind die Werkzeuge dieser Ethik im Sinne eines liebenden und barmherzigen Gottes, eigentlich überall auf der Welt.
Aber was ist die islamische Scharia wirklich? Ist sie ein strenges Regelwerk oder eine Orientierungshilfe im Leben eines Muslims? Kurz gesagt: Abgeleitet aus dem Verb شرع scharaʿa, was so viel heißt: ‚den Weg weisen, vorschreiben‘, beschreibt die Scharia ‚die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam‘, für einen einfachen Muslim ein unüberschaubares Weggewirr und kaum nachvollziehbares Durcheinander von Hinweisen und Querverweisen, obwohl doch Gottes Worte klar erkennbar sein sollen. Diese islamische Rechtsordnung, die ‚usulu-l-figh‘ genannt wird, wird aus der islamischen Überlieferung von Koran und Sunna abgeleitet. Die Gelehrten versuchten Gottes Wort im Koran unter besonderer Berücksichtigung der prophetischen Tradition, der Sunna zu verstehen und daraus individuelle sowie kollektive Handlungs- bzw. Unterlassungsnormen abzuleiten, also rituell-gottesdienstliche (ʿibādāt) wie religiös-rechtliche Normen (muʿāmalāt) gleichermaßen. Systematisiert wurde wurden die Normen spätestens seit Asch-Schafi’i, ein bedeutender islamischer Rechtsgelehrter, gestorben im Jahr 820. Er gilt auch als der eigentliche Begründer der islamischen Rechtslehre. Ich frage mich: Ist da der Weg zur Quelle, zu Gott noch klar und wahrnehmbar?
Es ist noch gar nicht allzu lange her, da ging in einer deutschen Großstadt eine Gruppe radikaler Muslime durch die Straßen. Auf ihren Westen stand die Aufschrift: „Scharia-Polizei“. Diese Gruppe von Extremisten kontrollierte, ob Muslime, die unterwegs waren, sich nach ihren salafistischen Moralvorstellungen verhielten. Es kam zu hitzigen Debatten und auch zu körperlichen Auseinandersetzungen. Diese Extremisten beanspruchten das Recht, in einer deutschen Stadt im Namen der Scharia für Ordnung unter den Muslimen zu sorgen. – Haben wir das so schnell vergessen?
Der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe hat sich intensiv mit der Scharia auseinandergesetzt. Er sagt: „Die Scharia ist kein Gesetzbuch, sondern ganz im Gegenteil ein sehr komplexes System, das im Grunde die gesamte Normenlehre des Islam beinhaltet. Das heißt: religiöse Normen ebenso wie rechtliche Normen und nicht nur die Normen als solche, sondern auch die ganzen Methoden, wie man diese Normen überhaupt erst einmalmal auffinden und interpretieren kann.“ Dennoch bedeutet das: ein eindeutig festgelegter Gesetzeskatalog kann es deshalb nicht geben, da es gebietsmäßig und landesmäßig unterschiedliche Scharia-Traditionen gibt.
Aber gerade über den islamischen Begriff: Scharia wird heutzutage viel diskutiert, Nichtmuslime wie Muslime. Fragt man Nichtmuslime, sagen sie fast übereinstimmend, dass es ein menschenverachtendes System an Gesetzen ist, frauenfeindlich, gewaltbetont und nicht mit unseren demokratischen Grundwerten und Menschenrechten, in dem es heißt: ‚Alle Menschen sind frei und gleich‘, vereinbar.
Muslime sind schon etwas differenzierter. Für einige bedeutet der Begriff Scharia: das Führen eines anständigen und rechtschaffenen Lebens, das heißt, sie verstehen ihren Glauben als moralisch, ethisch und nicht als Gegenstand einer Rechtsordnung. Aber leider sind diese Stimmen nicht allzu laut, um Gewicht als Gegenpol zu denen der Orthodoxen zu haben.
Für viele Muslime bedeutet Scharia alles, was Gott ihnen vorgeschrieben hat wie Beten, Fasten, Pilgerfahrten, Alkoholverbot usw. Sie sehen es als ein Gottesgesetz, das z.B. Diebe, Ehebrecher hart bestraft. Einiges ist erlaubt und einiges verboten. Scharia bedeutet, sich an die sechs Glaubensgrundsätze und an die fünf Säulen zu halten. Scharia, das bedeutet also das bedingungslose Einhalten der von einem islamischen Staat erlassenen Gesetzen, die mit Körperzüchtigungen, Frauendiskriminierung, Nichtrespektieren drohen. Es geht also nur um regierungsfreundliche Befehle, Verbote, Gesetze. Da hat die Liebe zu Gott keinen Platz, nur Furcht. Aber bedeutet Scharia wirklich nur das?
Eine bessere Antwort als Mouhanad Khorchide habe ich nicht anzubieten. Er schreibt: „Der Begriff ‚Scharia‘ bedeutet im Arabischen ‚Der Weg zur Quelle‘. Auf den Islam übertragen ist Scharia der Weg zu Gott, denn Gott ist die Quelle, er ist der Anfang und das Ende, Er ist das Licht und die Wahrheit, von Ihm kommen wir und zu Ihm kehren wir zurück.“
Welcher Weg führt aber zu Gott? Ist der Weg zu Gott wirklich nur ein juristischer Weg? Oder anders gefragt: Wird der Weg, den Gott für uns vorgesehen hat, um in seine Gemeinschaft zu kommen, über juristische Regelungen und Kategorien bestimmt?
Nein, sie hängt mit der jeweiligen Gottesvorstellung und der Vorstellung der Gott-Mensch-Beziehung ab. Man kann also Gott als strafenden, befehlenden Herrscher sehen, der auf Gehorsam und Verherrlichung steht oder als einen barmherzigen Gott sehen, der die Liebe und Nähe des Menschen sucht und dem es nicht darum geht, nur verherrlicht zu werden.
In der 5.Sure Al-Ma’ida, der Tisch:54 heißt es dazu: „O ihr, die ihr Glauben erlangt habt! Wenn ihr jemals euren Glauben aufgebt, wird Gott beizeiten an eurer Stelle Leute hervorbringen, die Er liebt, und die Ihn lieben – bescheiden gegenüber den Gläubigen, stolz gegenüber allen, welche die Wahrheit leugnen, Leute, die sich hart anstrengen für Gottes Sache und die nicht fürchten, getadelt zu werden von irgendeinem, der sie tadeln mag. Das ist Gottes Gunst, die Er gewährt, wem Er will.“ Gott will dementsprechend Seine Liebe keinem geben, der nur Befehle befolgt, ohne nachzudenken. Das wäre dann eine Liebe zwischen einem Befehlshaber und einem Diener. Dann wäre die Scharia wirklich nur eine Gesetzessammlung, die nicht hinterfragt werden muss und darf.
Aber es geht Gott nicht um seine Verherrlichung, sondern um die Glückseligkeit des Menschen, der sich Sorgen um die Gemeinschaft macht und gern die Einladung in die Gott-Gemeinschaft annimmt. Natürlich ist es notwendig, Normen und Gesetze zu beachten und befolgen, solange sie dem guten Näherkommen Gottes dienen. Diese Scharia ist eine Einladung in Gottes Gemeinschaft. Khorchide sagt dazu: „Eine Einladung, in der man ‚Ja!‘ sagt zu Gottes Liebe und Barmherzigkeit, diese annimmt und in seinem Lebensentwurf einbaut, um sie so zu einer erfahrbaren Wirklichkeit zu machen.“
Das bedeutet: Nicht der juristische Weg mit all seinen Vorschriften bringt den Menschen in die Gemeinschaft mit Gott, sondern durch sein ethisches Verhalten zu den Menschen und Spiritualität, also die unmittelbare geistige Glaubensverbindung mit Gott. Anders gesagt: Der Koran spricht von zwei Betrachtungsweisen: einmal einen individuellen, also persönlichen und einen kollektiven Blickwinkel, der auf eine gerechte Ordnung hinzielt. Zu der persönlichen Seite zielen die Koranverse: 7-10 der Sure Asch-Schams, die Sonne hin: „Und bei jeder Seele und bei Dem, Der sie gebildet und ihr den Sinn für ihre Sündhaftigkeit und für ihre Gottesfurcht eingegeben hat! Wahrlich, erfolgreich ist derjenige, der sie rein hält, und versagt hat derjenige, der sie verkommen lässt.“ Über den persönlichen und kollektiven Blickwinkel spreche ich in der nächsten Predigt.
Das heißt für mich: Gott reicht demjenigen die hilfreiche Hand, der sie nehmen will. Ich unterlasse das, was Gott nicht will und nehme das an, was Er für mich als das Beste ansieht. Und diese Hilfe finde ich im Koran. Da brauche ich keinen Katalog, der mir befielt, was ich zu tun und zu lassen habe. Meine Seele kann nur in der immerwährenden Auseinandersetzung mit mir selbst und den Hinweisen von Gott sich reinigen, nicht durch fremde Hilfe oder durch menschengemachte Richtlinien.
In der Sure16, Al-Nahl, die Biene, Vers 25 sagt Gott. „Deshalb sollen sie (die Gläubigen) am Tag der Auferstehung ihre eigene Last vollständig tragen, und einen Teil von der Last derer, die sie ohne Wissen irregeführt haben. Übel ist fürwahr die Bürde, die sie zu tragen haben.“ Das bedeutet, dass Gott sie zweimal bestraft, einmal für ihre eigenen Sünden und dass sie andere irregeführt haben durch Verbote, die Gott nicht so angewiesen hat. Gott meint damit, dass der Mensch niemals sein Ziel, das Gute aus den Augen verlieren soll.
Wir alle brauchen eine Gemeinschaft und so fordert der Koran die Gesellschaft als kollektive Gemeinschaft auf, für eine gerechte, tolerante und lebenswerte Gesellschaftsordnung zu sorgen.
Natürlich braucht jede Gesellschaft verbindliche Regeln und Normen, um in der Gemeinschaft miteinander klarzukommen. Und sie müssen, wenn sich die Gesellschaftsbedingungen ändern, immer wieder neu angepasst werden, und so auch in einem islamischen Staat. Immer wieder in der Geschichte des Islam gab es Menschen, die die Scharia für verbesserungswürdig ansahen, die gekämpft haben für gleiche Rechte und Pflichten für alle und für mehr Wissen. Erinnern wir uns an die junge Pakistanerin Malala, die sich für die Rechte von Frauen und Kindern in ihrem Land eingesetzt. daraufhin durch die Taliban lebensgefährlich angeschossen wurde. Ihr Motto lautete: “Ich erhebe meine Stimme – nicht um zu schreien, sondern um für die zu sprechen, die keine Stimme haben.”
Unsere Ordnung basiert auf unser Grundgesetz. In der Präambel steht:
„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Im Artikel 1 steht gleich als Erstes: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.‘ Im Artikel 4,1 ist festgesetzt: ‚Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.‘“
In der 15.Sure al-Hidschr, Das Felsengebirge, Verse 27-28 steht: „Als nun dein Herr sprach zu den Engeln: Ich will erschaffen einen Menschen aus einer Masse von geformtem Lehm. Wenn ich ihn nun gebildet habe, und eingehaucht ihm von meinem Geiste, dann fallt vor ihm hin, euch niederwerfend!“ Gott hat damit den Menschen über die gesamte Schöpfung erhoben, sogar über die Engel. Damit hat er jeden Menschen, ob Muslim oder Nichtmuslim, ob in hoher Position oder einfacher Mensch, in Verantwortung und Würde gesetzt, verbunden mit Freiheit und Gleichheit. Sind das nicht die Punkte unserer Verfassung?
Der Weg zur Quelle; Quelle, das ist Wasser, genauso lebensnotwendig wie auch Wissen.
Und so wie man den Menschen, den Muslim lange Zeit vom Wissenserwerb ausgeschlossen hat, so behindert man ihn auf den Weg zur Quelle, zum Licht Gottes. Man hat Gesetze, Verbote und einige Gebote aufgestellt, aber derjenige, der den Weg zur Quelle kennt, wird die Gebote Gottes und Seine Achtungszeichen anerkennen. So er braucht keine Verbote, zumindest muss er keine Angst vor Gott haben, denn er kennt die Liebe Gottes und er erwidert sie durch sein Verhalten und Bemühungen, durch seine Handlungen
Niemand kann mir meine eigene Verantwortung absprechen, noch kann ich sie auf andere Schultern übertragen. Und wie ich zu Gott stehe, meine innere Verbindung zu Ihm, das geht niemanden etwas an. Sie ist nur für mich wichtig. Deshalb kann ich irgendwelche menschengemachte Scharia-Gebote oder -Verbote nicht akzeptieren, weil sie mich in meiner Liebe und Vertrauen zu Gott nur behindern.
Was sagte Ali über den Koran? Die Menschen sollen es sein, die den Koran zum Sprechen bringen sollen, anders gesagt: die sich Gott in Dialog begeben.
Manaar

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