Rechtleitung im Islam

Rechtleitung im Islam

Unter der Obhut Allahs, der Göttlichen Barmherzigkeit, der göttlichen allumfassenden Gnade

Alles Lob gebührt Gott, der Göttlichen Erhabenheit, dem Oberhaupt aller Welten. Wir danken Allah für die allgegenwärtige Gnade und Gaben und wir bitten Allah um Hilfe und Rechtleitung in allem, was wir tun, und hoffen, dass wir die Göttliche Gunst empfangen werden. Der Göttliche Frieden und Segen sei mit allen Menschen

„Möge Allah Dich rechtleiten!“ – das ist ein Satz, den ich oft höre oder lese, seit ich zum Islam gekommen bin. Zumeist schwingt dabei ein jovialer oder fast abfälliger Unterton mit. Ganz nach dem Motto: „Ich weiß ja, dass ich Recht habe, und möge Gott Dir klar machen, dass meine Meinung die richtige ist.“ – oder auch: „Ich weiß grade nicht weiter, also soll sich bitte Gott drum kümmern.“

Der Begriff der Rechtleitung taucht aber auch in Qur’an an vielen Stellen auf und so beschloss ich, mich im Zuge meiner Studien intensiver mit Rechtleitung zu beschäftigen.

Schnell wurde mir klar: Das ist kein Thema, das mit dem Lesen von ein paar Artikeln und ein bisschen Suche nach passenden Suren aufgearbeitet ist. Die Idee der Rechtleitung beschäftigt seit der Offenbarung an unseren Propheten Mohammed (Fsai) die islamische Theologie und Mystik. Mir wurde bewusst, dass ich mit dieser einen Khutba das Thema Rechtleitung nur grob umreißen und anschneiden könnte. Genauso wie „Barmherzigkeit“ ist „Rechtleitung“ mehr als nur ein fest definierter Begriff, sondern ein tiefer und vielfältiger Themenkomplex.

Das Substantiv „Rechtleitung“ kommt 81mal im Qur’an vor, das Verb „rechtleiten“ weitere 27mal. Hinzu kommen gute zwanzig weitere Stellen, in denen Formen der Begriffe „leiten“ und „geleitet“ verwendet wird.

Die Idee der Rechtleitung ist damit ein zentrales Thema innerhalb des Qur’an und verdient daher – meiner Meinung nach – einen entsprechenden, also einen äußerst bedeutsamen Stellenwert in der Religiösität der Muslim*innen. Darauf werde ich später noch einmal zu sprechen kommen.

Der Ausdruck „Rechtleitung“ wird verwendet für die Wiedergabe des arabischen Begriffes „hudā“ verwendet. Dieses Wort wird im Koran und in Texten der islamischen Theologie genutzt für die praktische Leitung der individuellen Lebensführung und des Gemeinwesens gemäß dem göttlichen Willen und im göttlichen Sinne. Der übliche Gegenbegriff ist „In die Irre gehen bzw. geleitet werden“ (arabisch ḍallala).

Die geoffenbarte Botschaft Gottes wird dabei als bedeutende Quelle wahrgenommen für die Inspiration der einzelnen Menschen auf deren spirituellem Weg der Weiterentwicklung.

So lesen wir in Sure 5, Verse 44 bis 46:

„Wir haben (seinerzeit den Kindern Israels) die Thora herabgesandt, die (in sich) Rechtleitung und Licht enthält… Und wir ließen hinter ihnen (d.h. den Gottesmännern der Kinder Israels) her Jesus, den Sohn der Maria, folgen, dass er bestätige, was von der Thora vor ihm da war… Und wir gaben ihm das Evangelium, das (in sich) Rechtleitung und Licht enthält… als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen.“

Die Rechtleitung Gottes, die göttliche Hilfestellung, gilt also auch für die vorherigen abrahamitischen Religionen über die Verkündigungen der jeweiligen Prophet*innen.

Der Qur’an wiederum, als geoffenbarte Botschaft Allahs an Mohammed (Fsai), wird als Buch der Rechtleitung empfunden und somit auch als Quelle der Spiritualität.

Allah sagt in Sure 2, Vers 2 über den Qur’an, er

,,(…) ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen“.

Damit wertet Allah die Botschaft des Qur’an als gleichwertig mit den vorangegangenen Rechtleitungen.

Aus theologischer Sicht ist der Qur‘an für „die Gottesfürchtigen“ eine Rechtleitung sowohl im Diesseits als auch im Jenseits. [Auf den Begriff „Gottesfurcht“ bzw. „Gottesehrfurcht“ werde ich in einer gesonderten Khutba eingehen.]

Spannenderweise finden wir in der gleichen Sure in Vers 185 im Zuge der Erläuterung Bestimmungen zum Fasten folgendes:

„Der Monat Ramaḍān (ist es), in dem der Qurʾān als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist und als klare Beweise der Rechtleitung und der Unterscheidung.“

Gott spricht hier nicht davon, die göttliche Botschaft als Rechtleitung sei nur für Muslim*innen gedacht, oder für Gottesfürchtige, oder für Gläubige, oder für Angehörige der abrahamitischen Religionen, oder nur für Männer, oder gar nur für Heterosexuelle.

Nein. Der Qur’an wurde herabgesandt „als Rechtleitung für die Menschen“.

Ich finde das bemerkenswert.

In Vers 2: ,,Rechtleitung für die Gottesfürchtigen“.

In Vers 185: „Rechtleitung für die Menschen“.

Widerspricht sich das nicht?

Ich glaube nicht. Die Texte im Qur’an wurden so offenbart, dass Allah dem Propheten Mohammed (Fsai) und den seinen eine spirituelle Entwicklung ermöglichen sollten. Kernstück dieser persönlichen, moralischen Entwicklung ist die Erkenntnis. Die Erkenntnis über Wissen und Bildung. Und damit das schrittweise Verstehen der gesamten Schöpfung und seiner Verknüpfung mit Allah.

Das bedeutet: Für mich ist es logisch, dass Gott zu Beginn der Sure auf „die Gottesfürchtigen“ verweist, dann aber das Angebot der göttlichen Rechtleitung erweitert auf „die Menschen“.

So als wollte Allah uns mitteilen: „Hey, aber denkt mal drüber nach, dass mein Angebot eigentlich für alle Menschen gilt.“

Das ist inklusiv. Das betrifft auch mich. Durch diesen Teil von Allahs Botschaft bin ich nicht nur als Gläubiger, sondern als Mensch angesprochen und eingeschlossen.

Jetzt könnte man* sagen: „Das hat sich der schwule, progressiv predigende Konvertit schlau ausgedacht.“

Tatsächlich aber sind sich die Gelehrten darüber einig, dass die Verse im Einklang stehen.

Der Begriff „Rechtleitung“ bedeutet im Qur‘an nämlich zweierlei: Die Rechtleitung im Sinne von „hinweisen“ und „einen Weg zeigen“, zu dieser Art Rechtleitung sind die Gottesgesandten und deren Nachfolger in der Lage.

In Sure 13, Vers 17 sagt Allah:

,,Und jedes Volk hat einen, der es rechtleitet“

Das heißt, dass es in jedem Volk Menschen gibt, die es auf den rechten Weg hinweisen.

In Sure 42, Vers 52 sagt Allah:

,,Und du leitest ja wahrlich zu einem geraden Weg“

Allah bestätigt hiermit, dass die Gesandten sowie deren Nachfolger auf einen Weg des Glaubens leiten, also hinweisen, einladen und ermahnen.

Doch nur Gott leitet im Sinne der zweiten Bedeutung („einen Weg zeigen“) recht: Er leitet und festigt die Herzen.

In Sure 28, Vers 56 lesen wir:

,,Gewiss, du kannst nicht rechtleiten, wen du gern (rechtgeleitet sehen) möchtest. Allah aber leitet recht, wen Er will.“

In Sure 10, Vers 25 steht zudem:

,,Allah lädt zur Wohnstätte des Friedens ein und leitet, wen Er will, zu einem geraden Weg.“

Der Begriff „eines geraden Weges“ ist also das Synonym für eine Rechtleitung, eine Hilfestellung und Anleitung in Bezug auf den Glauben. Allah legt uns quasi einen Weg bereit, der – wenn wir ihn beschreiten – in eine tiefere Spiritualität und damit zu Gott führt.

Zurückblickend auf die beiden Verse in Sure 2 komme ich zusammen mit vielen traditionellen Gelehrten zu dem Ergebnis: Gott macht mit der Idee der Rechtleitung nicht nur allen Muslim*innen oder monotheistisch-abrahamitischen Gläubigen ein Angebot zur Unterstützung, sondern der gesamten Schöpfung, jedem einzelnen Menschen.

Gott eröffnet die Möglichkeit auf Rechtleitung und macht allen Menschen ein Angebot zur spirituellen Weiterentwicklung und Unterstützung.

Gleichzeitig aber verfügt der Mensch, durch Gott verliehen, über den „Freien Willen“.

Damit besteht für Menschen die Möglichkeit der Wahl: Gottes Angebot entweder anzunehmen oder auszuschlagen.

In der Theologie gibt es eine Vielzahl der Betrachtung des „taraka“, des Ausschlagens von Gottes Rechtleitung. Es gab und gibt Gelehrte, die nur das Ablehnen bestimmter Unterformen der Rechtleitung als akzeptabel betrachten; andere empfinden die Wahl-Option als universell, also für alle Aspekte der Rechtleitung möglich.

Ich möchte mich an dieser Stelle jedoch nicht den Unterformen der Rechtleitung widmen, sondern meine Gedanken zum Stellenwert der Rechtleitung in der täglichen Religiosität der Muslim*innen ausführen.

Denn mir ist eins aufgefallen: Ebenso wie „Barmherzigkeit“ ist „Rechtleitung“ ein zentrales Thema des islamischen Glaubensidee. Statt sich aber um die persönlichen Auswirkungen des göttlichen Angebots auf spirituelle Entwicklung zu kümmern, stellen viele Muslim*innen ein umfangreiches Regelsystem zu äußerem Verhalten in den Mittelpunkt ihrer täglichen Religionsausübung.

Für viele Muslim*innen ist dieses Regelsystem – abgeleitet aus Qur’an und Überlieferung – enorm bedeutsam. Für sie haben Ernährungsregeln, Bekleidungsvorschriften, Bittgebete und vieles mehr den Stellenwert, den eigentlich die Idee der Rechtleitung haben sollte. Sie leben ein Rechtssystem, während sie sich eigentlich mit den Offenbarungen Gottes beschäftigen sollten. Diese Offenbarungen nämlich waren nicht nur für die Prophet*innen gedacht, sondern für alle Menschen, mit den Gesandten als Mittler*innen. Somit müssen die Offenbarungen Gottes eine persönliche Auswirkung auf die Gläubigen und deren eigene spirituelle Entwicklung haben.

Nachdem ich mich jetzt mit der Rechtleitung näher beschäftigt habe, kann ich persönlich nicht anders, als ihr den Stellenwert einräumen, der ihr gebührt. Denn ich ganz persönlich fühle mich völlig eingeschlossen in göttliche „System“ der Barmherzigkeit, Liebe und Rechtleitung.

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