Menschlichkeit

06.01.2023

Menschlichkeit

Ich möchte heute einmal mit dem 13. Vers der 49. Sure „Al-Hudschurat- Die Gemächer“ beginnen. 

يَـٰٓأَيُّهَا ٱلنَّاسُ إِنَّا خَلَقْنَـٰكُم مِّن ذَكَرٍۢ وَأُنثَىٰ وَجَعَلْنَـٰكُمْ شُعُوبًۭا وَقَبَآئِلَ لِتَعَارَفُوٓا۟ ۚ إِنَّ أَكْرَمَكُمْ عِندَ ٱللَّهِ أَتْقَىٰكُمْ ۚ إِنَّ ٱللَّهَ عَلِيمٌ خَبِيرٌۭ ١٣

„O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Allah ist der Gottesfürchtigste von euch. Gewiss, Allah ist Allwissend und Allkundig“

   Der Geehrteste, das ist jemand, der nicht nur bei Gott der Angesehenste ist, der respektiert auch andere Menschen, beachtet ihre Würde und Rechte und handelt mit besten Wissen und Gewissen.

    Was heißt eigentlich Menschlichkeit: Es stellt die Würde des Menschen dar, seine positive Einstellung gegenüber den Mitmenschen. Da sind Eigenschaften wie Empathie, Rücksicht, Achtsamkeit, Toleranz, Respekt und Fürsorge gegenüber anderen Menschen als Ausdruck des Verstehens und Mitfühlens. Das alles macht die Menschlichkeit aus. Ich denke, erst durch diese Fähigkeiten der Menschlichkeit wird ein Individuum zum Menschen. Fähigkeiten wie Mitleid, Nächstenliebe, Güte, Milde, Wohlwollen, Hilfsbereitschaf prägen ihn am meisten innerhalb einer Gemeinschaft, auch weil er denken kann, ein Bewusstsein hat und es anwenden kann.

    Nun frage ich mich: Was sind das für Menschen, die unschuldige Kinder, Frauen und Männer jetzt in der Ukraine   ermorden, als ihre Gefangenen misshandeln, nur weil sie ihre Heimat verteidigen; warum die Taliban Frauen zwingen, unter einem Stück Stoff zu leben wie ein unsichtbares, bedeutungsloses Wesen und nicht arbeiten zu dürfen; warum musste eine Frau sterben, nur weil ihr Kopftuch nicht richtig saß, viele warum‘s…

     Gott hat dem Menschen eine besondere Würde gegeben und ihm gleichzeitig damit auch eine besondere Bürde auferlegt. Den Religionen Russlands, der Ukraine, des Irans oder Afghanistans nach, ist der Mensch Gottes Statthalter auf Erden und diese Aufgabe verkörpert die höchste göttliche Würde, die dem Menschen überhaupt zuteilwerden kann: So steht es in der 2. Sure „Al-Baqara- Die Kuh“, Vers 30: „Und als dein Herr zu den Engeln sagte: ‚Ich bin dabei, auf der Erde einen Statthalter einzusetzen‘, da sagten sie: ‚Willst Du auf ihr etwa jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil stiftet und Blut vergießt, wo wir Dich doch lobpreisen und Deiner Heiligkeit lobsingen?‘ Er sagte: ‚Ich weiß, was ihr nicht wisst.‘“ 

    Zielt nicht dieser Vers auf die Würdigkeit oder Unwürdigkeit des Menschen hin, auf Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit? Sehen manche Menschen nur sich selbst und nicht die Menschengemeinschaft, ohne die wir nicht existieren könnten? Gemeinschaftliche Erinnerungen und ihre Kulturen sind doch eigentlich der beste Schutz gegen Verletzlichkeiten der Menschlichkeit und Menschenwürde.

      Muhammad Sajjid Tantawi, ehemaliger Großscheich der Kairoer Azhar-Universität und oberste religiöse Autorität des sunnitischen Islams, wurde im Jahr 1997 von einem Reporter der Zeitschrift „Der Spiegel“ nach der Verurteilung des Islamgelehrten Abu Zaid gefragt.  Hier ein Auszug daraus:

SPIEGEL: Muss nach islamischem Recht ein Ketzer nicht dem Henker überantwortet werden?

TANTAWI: Islam heißt Toleranz und Menschlichkeit. Unsere Religion ist keine barbarische Dämonenwelt, wie sie von manchen, aus welchen Gründen auch immer, dargestellt wird. Allah gibt jedem Menschen das Recht, sich für die Religion zu entscheiden, die ihm zusagt.

SPIEGEL: Ihre Toleranz wird nicht von allen islamischen Schriftgelehrten geteilt. Vermeintliche Abtrünnige sollen nach Meinung extrem fundamentalistischer Theologen ihren Frevel mit dem Tode büßen.

TANTAWI: Welch ein Unsinn! Eines der edelsten Prinzipien des Islam lautet: »Niemand darf zur Religion (zum Islam) gezwungen werden.« Wer das nicht beherzigt, handelt unislamisch – das ist unzweideutig.

SPIEGEL: Sie haben die Verketzerung Abu Zaids für rechtsunwirksam erklärt, warum?

TANTAWI: Weil ihm keine Gelegenheit gegeben wurde, die Argumente vorzutragen, mit denen er seine von den Kritikern angegriffenen religiösen Erkenntnisse hätte verteidigen können. Die Verurteilung eines Menschen über seinen Kopf hinweg, ohne dass mit ihm über seine Thesen und Ansichten diskutiert wurde, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sie widerspricht dem elementarsten Gerechtigkeitsempfinden der ägyptischen Gesellschaft und natürlich auch der islamischen Gemeinschaft.“

   Was würde er heute sagen, wenn er erfahren würde, dass ich, eine Frau, die Freitagspredigt halte?

    Im Westen galt Tantawi als Liberaler unter den islamischen Rechtsgelehrten, z. B: ordnete er 2009 an, das Tragen des Gesichtsschleiers an allen Institutionen der al-Azhar per Erlass zu verbieten. Diese Art von Bedeckung sei nach seiner Äußerung nur eine Tradition und stelle für gläubige Muslime keine islamische Pflicht dar. Inwieweit er handelt, hat jeder, auch er zu verantworten.

   Islam bedeutet Toleranz und Menschlichkeit. Dennoch feinden  uns die jetzigen Vertreter der Al-Azhar seit dem 1. Tag der Gründung unserer Moschee heftig an. Ist unsere Religion mit der Zeit zu starr, engstirnig geworden, die mehr oder weniger auf Verbote aufgebaut ist, nicht lebendig und offen sein darf? Wo sind heute der elementarste Gerechtigkeitssinn und die edelsten Prinzipien verschiedener Gesellschaften, nicht nur in islamischen Ländern?

     Vor Kurzem habe ich einen ungebetenen Artikel zum Lesen zugeschickt bekommen, ohne Verfasser. Es stand nur da: Artikel von Offenkundiges.  Ich habe nachgesehen: Es ist eine Plattform einer ‚Gemeinschaft muslimischer Publizisten‘. Thema war: ‚Schönheit der Frau‘. Es klingt erst einmal gut. Aber da heißt es unter anderem: Das Kopftuch soll nicht zu der Einschränkung der Schönheit der Frau führen, sondern zur Befreiung der Gesellschaft von ihrer Triebhaftigkeit. 

Triebhaftigkeit wessen? Des muslimischen Mannes oder allgemein die des Mannes, oder der Frau? Oder auch einer Gesellschaft, die meint, die Frau sei dem Mann untergestellt? Wo bleibt da die Würde und Eigenverantwortung beiderseits und die der jeweiligen Gesellschaft? Religionen, wie auch die unsrige, sollten etwas Schönes, Verheißungsvolles sein, aber niemals dürfen sie herabwürdigend sein. 

    Sich in den Schutz eines geliebten Mannes zu begeben ist ja nicht verwerflich, aber in dem Artikel wird propagiert, wie schön es doch wäre für eine Frau, mit der Annahme des Kopftuches gleichzeitig auch ihre eigene Verantwortung abgeben zu dürfen, sich in Abhängigkeit und Wohlwollen oder Nichtwohlwollen, den Launen eines Mannes (oder auch eines Staates) zu begeben, der über sie im Guten oder im Schlechten bestimmt. 

    Nein, ich habe nichts gegen das Kopftuch. Ja, ein Tuch kann ein schönes Bekleidungsstück sein oder in einem Land zur Bekleidungstradition neben etlichen anderen Bekleidungsformen gehören, solange die Entscheidungsrechte ihrer Trägerin nicht beschnitten oder eingeengt werden oder ein schlecht sitzendes Tuch nicht als Grund anzusehen ist, ihre Besitzerin zu schikanieren.

    Ich denke, in dem genannten Artikel geht es wahrscheinlich um dieses Stück Stoff, das richtig sitzen muss, um ihre Demut und Unterwürfigkeit der Trägerin zur Religion bzw. eines Landes offenkundig zu machen. Es hat sich gezeigt, dass diese Frauen sich nicht mehr so einfach von ihrer Staatsmacht unterdrücken lassen, und nun verlangen sie sogar lautstark und gemeinsam mit ihren Männern ihre Rechte auf Menschlichkeit.

     Jetzt stellt sich natürlich die Frage, welche Frau frei ist: Die Frau, die sich für ihren Ehemann aufbewahrt oder eine Frau, die sich freizügig von jedem Mann ausnutzen lässt, so wie es im Artikel heißt? Mit diesen Worten stellt man den Mann wie auch die Frau ziemlich abfällig dar. Oder eine Frau, die über sich selbst bestimmt?

     Ja, dieser Blickwinkel auf die Frau ist noch immer in etlichen muslimischen Ländern vorhanden. Eingesperrt und untergeordnet in der Welt des Mannes oder sagen wir es krass: missachtet, wenn auch schon ziemlich angekratzt.

      Menschlichkeit umfasst alle Erwartungen, Bestrebungen, Hoffnungen und Handlungen von Menschen für eine lebenswerte Wirklichkeit. Es ist auch das Wertesystem, dass sich durch den ganzen Koran zieht und es betrifft jeden einzelnen Menschen und ganze Kulturen. Ein Nicht-Sein oder eine Existenz einer Frau unter einer Burka wie in Afghanistan darf es für lange Zeit nicht geben. Irgendwann werden die noch kaum zu hörenden Stimmen darunter lauter, anklagend, bis sich ein heftiger Sturm entfacht, so wie jetzt im Iran die Frauen gemeinsam mit ihren Männern ihre Proteste den Herrschenden ins Gesicht werfen. So werden eines Tages alle Frauen der Welt Gerechtigkeit, Freiheit, Akzeptanz und Menschlichkeit einfordern. 

    In meinen Augen ist das Kopftuch für ein Teil der Menschheit sozusagen zum Aufruf zur Menschlichkeit geworden, eine Fahne als Symbol für Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit. Es ist die Fahne der Frauen in Afghanistan, Iran und in vielen anderen Ländern und so bedeutungsvoll wie die Fahne der Ukraine.

   Und es ist meine Freiheit und auch für mich eine große Ehre, hier in dieser Moschee, der Ibn Ruschd-Goethe-Moschee und ohne Kopfbedeckung predigen zu dürfen.    

Manaar

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