Gehorsamkeit als Machtfaktor

22.01.2021

Gehorsamkeit als Machtfaktor

oder

Was ist geblieben von Muhammads Vorstellung von einer Gesellschaft der Glaubenden

In meiner letzten Predigt über Muhammads frühe Gemeinde der Glaubenden kam ich zu folgendem Ergebnis: Das einzige Maß eines gläubigen Menschen ist die Stärke und Intensivität seines Glaubensbewusstseins an Gott und seine Moral und Ethik. Gott forderte die Gläubigen auf, am Koran als Richtschnur festzuhalten. Er legte den Menschen zu allen Zeiten Grundrechte, Menschwürde und das Recht auf Leben jedem Einzelnen ans Herz – unsere heutigen ethischen Werte.
Der Prophet Muhammad wies in seiner Abschiedspredigt am Berg Arafat mit dem 13.Vers der Sure al Hudschurat hin: „O ihr Menschen! Ich erschuf euch als Mann und Frau und machte euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr einander kennen lernt. Wahrlich, vor Gott ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist. Wahrlich, Gott ist allwissend, allkundig.“ Darin ruft Gott zu respektvollem und zurückhaltendem Umgang mit dem Propheten und zu friedliebendem Verhalten untereinander auf.
Muhammad betonte mit diesem Vers die Verwandtschaftlichkeit und Gleichheit der Menschen und hob gleichzeitig die Stammesprivilegien und -Verpflichtungen und Monopolstellungen in Bezug auf Glaubensrichtungen auf, mit der Betonung, dass jeder Mensch gleich sei.
Aber kommen wir auf das heutige Thema: Gehorsamkeit als Machtinstrument.
Gehorsam bedeutet eine Unterordnung unter den Willen einer Autorität, das Befolgen eines Befehls oder Forderung oder auch das Unterlassen von etwas Verbotenes. Die Autorität kann dabei eine Person oder eine Gemeinschaft sein, aber auch eine überzeugende Idee, ein Gott oder das eigene Gewissen. Gehorsamkeit war einer der Grundpfeiler der früheren Stammesgesellschaften in Arabien
Und man kann zwischen freiwilligem und erzwungenem Gehorsam unterscheiden. Gehorsam besitzt keine feststehende Qualität, seine Bedeutung verändert sich so wie die Normen und Werte einer Gesellschaft.
Freiwilliger Gehorsam gegenüber Regeln, die als gut anerkannt sind, das können im religiösen Bereich für die Christen die ‚Zehn Gebote‘ gegenüber dem Willen Gottes sein, im Islam die ‚sechs Glaubensgrundsätze‘ (ʿAqīda): Glaube an Gott, an die Engel, an die offenbarten Bücher, an die Gesandten Gottes, an den jüngsten Tag, an die Vorsehung und die 5 Säulen im Islam: Schahāda (islamisches Glaubensbekenntnis), Salāt (Pflichtgebet), Zakāt (Almosengabe), Saum (Fasten im Ramadan), Haddsch (Pilgerfahrt nach Mekka
Und es gibt den Gehorsam als Selbstdisziplin. Es ist eine innere Haltung zu einer positiven Anweisung, Belehrung oder auch strikter Befehl in einem sozialen Gefüge. Ich als Mitglied ordne mich in dem Gefüge unserer Gemeinde ein, da ich sie auch für mich als gut und richtig empfinde. Ich kann aber auch dagegen sprechen, wenn ich denke, es könnte etwas nicht Richtiges vorliegen. Das würde ich als selbstverpflichtender Gehorsam zu einem positiven Ansinnen für Gerechtigkeit oder Wohlgefüge für meine Moschee sehen.
Ich möchte nochmals betonen: Als der Prophet Muhammad die Gleichheit, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung betonte, hob er damit die Stammesprivilegien und ihre Vorrechte auf, die infolge von Abstammung und Vermögen bestanden haben. Jeder Mensch seiner Gemeinde hat nun seine eigene Würde und ist unantastbar und sein Besitztum ist tabu.
Die Menschen um den Propheten Muhammad sahen sich als die „Gemeinde der Gläubigen“. Aber wer waren diese Gläubigen? Es waren in erster Linie Leute, die dem Koran und ihrem Propheten Muhammad folgten und ihr Leben nach dem Koran ausrichteten. Sie gehörten den vielgläubigen, verschiedenen Stämmen und Clans an und kamen aus unterschiedlichen religiösen Strömungen. Im Koran werden sie die ‚Leute des geoffenbarten Buches‘ genannt, also Juden und Christen. Sie fühlten sich als gleichberechtigte Verwalter Gottes auf Erden, im Sinne ihrer Nutzbarkeit und voller Dankbarkeit all dessen, was Gott für sie erschaffen hat.
Eigentlich sollte das, was der Prophet in seiner letzten großen Ansprache an die Mitglieder seiner Gemeinde der Glaubenden ans Herz gelegt hatte, die Grundsätze einer besseren Gesellschaftsordnung sein. Aber ist es wirklich so gekommen? Gott legte doch in der Sure 3: Al-Imran, Vers 104 dar: „Und aus euch soll eine Gemeinschaft werden, die zum Guten einlädt und das gebietet, was recht ist und das verbietet, was Unrecht ist, und diese sind die Erfolgreichen.“
Wie konnte es da geschehen, dass sich im Laufe der Zeit Muslime gegen Muslime wenden, eine Religionsströmung gegen die andere? Es geht doch eigentlich nur um Machtansprüche einzelner Herrscherfamilien der alten arabischen Stammesgesellschaft bzw. Familien!
In einer Abschrift der Urkunde, der sogenannten „Verfassung von Medina“, werden mehrere jüdische Stämme als Mitglieder der umma oder Gemeinde der Gläubigen, die Muhammad in Medina begründet hat, aufgeführt. Aus wenigen anderen Dokumenten kann man ersehen, dass sich diese Gemeinde immer noch einige Zeit nach ihrer Ausbreitung als ‚Gemeinde der Gläubigen‘ gesehen hat. Mehrere Inschriften aus Syrien und Westarabien aus den Jahren 660–680 erwähnen Muʿāwiya, der demnach als Amīr al-Mu’minīn, „Befehlshaber der Gläubigen“, bezeichnet wird. Nur die Wörter Muslim und Islām wurden noch nicht in diesen frühen Inschriften gefunden, weil es ‚den‘ Islam noch nicht gab.
Um zu begreifen, warum in so kurzer Zeit nach dem Tod des Propheten ein Kalifat errichtet werden konnte, müssen wir in die Zeit vor der Auswanderung Muhammads zurückgehen. Es gab innerhalb des Stamms der Quraish in Mekka große Kämpfe um die Vorherrschaft der einzelnen Clans. Diese vorislamische Rivalität besonders zweier Clans, der Clan der Umayyaden und der Clan der Abbasiden, setzte sich in der Geschichte des Islam fort.
In seinem Buch „Gottes falsche Anwälte“ schildert Mouhanad Khorchide die Rückentwicklungen von einer ebenbürtigen Gruppierung zu einer neuen Aristokratie-Machtstellung schon unter dem 3. Kalifen Uthman, der die Anhänger seines umayyadischen Clans privilegiert hatte. Das koranische Wertesystem, in dem Muhammads Nachfolger, die ersten Kalifen, durch Wahl ernannt wurden, begann zu bröckeln.
Aber das konnte nur durch eine vollkommen andere, neue Legimitation geschehen.
Nach der Eroberung der sassanidischen Gebiete kamen die muslimischen Eroberer mit deren Kultur in Berührung, so auch mit der gottgleichen Erhöhung des sassanidischen Königs auf gottgleichem Niveau. Das beeindruckte natürlich die Umayyaden und später die Abbasiden in ihrem Machtverständnis. Die umayyadischen Kalifen nutzten diese Auffassung von Macht als religiöses Argument im Namen Gottes, bei den Abbasiden später im Namen des Propheten.
So soll schon der Kalif Uthman argumentiert haben: „Ich ziehe doch kein Kleid aus, das Gott mir angezogen hat.“ Er muss sich wohl sehr privilegiert gesehen haben, über allem stehend!
Mu‘awiya argumentierte ungefähr so, nachdem er in die Gegend des heutigen Irak eingefallen war: „Und es gehört zu dem von Gott bestimmten Schicksal, dass Er uns hierher gebracht hat und dass der Krieg zwischen uns und den Bewohnern Iraks passiert. Wenn Gott gewollt hätte, hätten sie keinen Krieg geführt, Gott macht jedoch, was Er will“. Man kann das auch ganz krass auf einen Nenner bringen: Gott hat Schuld, dass er überhaupt auf solche Gedanken gekommen sei, andere Völkergruppen zu überfallen.
Er schiebt also seine Machtgelüste und Eroberungswillen auf Gott. Mu‘awiya und seine Nachfolger begründen demntsprechend, dass Gott ihnen die Macht gegeben hat und es ist der Wille Gottes, für die Muslime, ihre neuen Untertanen, ihre Bestimmung zu finden, also über sie zu bestimmen. Das heißt: Ihre Untertanen werden sich doch nicht dem Willen Gottes entgegensetzen. Wenn sie nicht das tun, was ihnen gesagt wird, handeln sie gegen den Willen Gottes. Sein Sohn Yazid brachte es auf den Punkt. Er soll gesagt haben: „Gelobt sei Gott, der tut, was er will, und der gibt, wem er will.“
Für die Menschen damals und vielleicht auch noch heute klang das so: Nicht mehr der Gläubige bestimmt durch sein Handeln seine Zukunft im Paradies, sondern seine Vorherbestimmung, ein von Gott gegebenes Schicksal, denn ein Schicksal, das den Willen Gottes widerspiegelt, muss unhinterfragt hingenommen werden. Die Willensfreiheit des Menschen spielt keine Rolle mehr.
So einfach ist es: Koranverse müssen nur aus ihrem Kontext herausgerissen und im Interesse der Herrschaft interpretiert werden, um mit ihnen eigene Absichten im Namen Gottes und mit dem Willen Gottes, dem ja nicht widersprochen werden darf, umzusetzen! Und eine ganze Gesellschaftsordnung wird im Namen Gottes nach eigenem Dünkel umgestaltet! Meinte nicht der Prophet Gottes, Muhammad, dass der Mensch frei sei und selbstbestimmend über sein Schicksal?
So konnte das Kalifat auch durch das vom vorherbestimmten Schicksal zu einer vererbbaren Monarchie umgewandelt werden.
Mouhanad Khorchide sagt das so: „Wenn sich ein autoritärer Herrscher als Vertreter auf Erden sieht, braucht er einen autoritären Gott, in dessen Namen er seine restriktive, einschränkende Politik durchsetzen kann. Und genau aus diesem Grund begann die Manipulierung des Gottesbildes des Islams.“ Manipulation des Gottesbildes – anders kann man es nicht nennen.
Wir kennen Gott als barmherzig, Er hat es sich sogar auf seine Fahne geschrieben. Aber nun wird von einem drohenden und bestrafenden Gott geredet und die Hölle hervorgehoben. Mit der Zeit wird sich diese Seite Gottes mehr und mehr in das gesellschaftliche Gedächtnis eingegraben haben anstelle Seiner Barmherzigkeit und Liebe gegenüber den Menschen. Nur einige Beispiele dazu: der heutige Umgang mit der Homosexualität wird immer noch als Krankheit angesehen werden und muss bekämpft werden oder Gewalt in der Familie und unbedingter Gehorsam zum Hausherrn.
Die bedingungslose Unterwerfung in einem Stammes-bzw. Clanverband wurde zu einer bedingungslosen Unterwerfung in ein Kalifat. Der herrschende Stamm der alten Ordnung ist in ein Kalifat aufgegangen.
Übrigens, in dieser Zeit entstanden auch die von Menschen aufgestellten Regeln der Scharia. Nun heißt es: Diese Regel musst du einhalten, diese Pflicht muss notwendig sein. Was darf man eigentlich? Denken schon gar nicht!
Auch Gelehrte wie Ghazali, gestorben 1111, stießen in das gleiche Horn. Er sagte: „Die Gegenwart Gottes kann nicht verstanden werden außer in Analogie, also Gleichheit zur Gegenwart des Sultans. Herrschaft wird zwar durch die Treueerklärung durch das Volk vollzogen, sie geschieht allerdings nur dadurch, dass Gott die Herzen der Menschen zum Gehorsam und zur Loyalität zwingt. Und dies haben die Menschen nicht selbst in der Hand.“ Das sagte Ghazali, den man als den ‚Erneuerer in der Religion‘ kürte! Wie schon gesagt: keine Willensfreiheit mehr und das heute noch in einigen Ländern!
Khorchide meint dazu: „Indem der Herrscher Gott gleichgestellt wird, wird er in die Sphäre des Transzendenten, des Unantastbaren versetzt.“
So blieb es über die Jahrhunderte: Beide Monarchien, die der Umayyaden und der Abassiden, beriefen sich zur ihrer Legimitation ihrer Macht auf das von Gott gegebene Schicksal, so auch die heutigen Monarchien. So entstand der politische Islam.
Alles ist von Gott geschaffen und entspricht seinem Willen, auch die Herrschaft der Kalifen über die Bewohner ihrer Reiche und was darinnen geschieht. Selbst ihre Kommunikation mit den Untertanen war nun nicht mehr eine freie Diskussion, sondern eine in poetischer Form verfasste Mitteilung, die in Moscheen oder Märkten vorgetragen wurden. Diese Bekanntmachungen wurden religiös eingebettet und ausgeschmückt mit Koranversen und Hadithen, um so Ehrfurcht vor dem Herrscher wie vor Gott zu erzeugen und sie mussten regelrecht zeremoniell rezitiert werden. Khorchide erklärt: „Diese beiden Werte, der unbedingte Gehorsam gegenüber den Herrschern sowie die Auffassung von der Vorbestimmtheit allen Geschehens bzw. Handelns durch Gott, also Ursache und Wirkung, bildeten die ideologischen Grundpfeiler des politischen Wertesystems der Umayyaden und später der Abbasiden. Das Subjekt Mensch wurde zu einem Objekt Mensch.“
Was bedeutet vorherbestimmtes Schicksal? Da ich nicht weiß, was Gott für mich vorherbestimmt hat, aber Er mich über mein Schicksal selbst bestimmen lässt, muss ich annehmen, dass das, was ich selbst tue und verantworte, mein Schicksal entspricht. Also ich bestimme selber, was mir vorbestimmt ist. Wo sonst würde dann meine Selbstbestimmung als Stellvertreter Gottes, die Er mir durch den Koran verliehen hat, bleiben? Man hat den einfachen Muslimen einfach die Stellvertreterwürde weggenommen. In diesen vergangenen Jahrhunderten bestimmten nicht die Muslime, sondern ihre Schicksale lagen vollkommen in Händen Gottes, bzw. als Sein Vertreter in Händen des Kalifen.
Selbst ihre Namen zeugten davon. So nannte sich z.B. der abbasidische Kalif al-Mansur bi-llah, Mansur, der Sieger durch Gott.
Bis heute dient z. B. in Saudi-Arabien der Vers der Sure 4: 59 zur Begründung von politischen Machtstrukturen und Unterwerfung: „Ihr, die ihr glaubt! Gehorcht Gott und gehorcht dem Gesandten und denen unter euch, die Weisungsgewalt, Autorität besitzen! Wenn ihr über irgendeine Sache uneinig seid, bringt sie vor Gott und dem Gesandten…“ Gott wird durch den Koran vertreten und der Gesandte durch seine Hadithe und da gibt es jede Menge Leute, die zum Gehorsam aufrufen., z.B. Abu Huraira lässt den Propheten sagen: „Wer mir gehorcht, hat Gott gehorcht und wer dem Imam gehorcht, der hat mir gehorcht, und wer mir widerspricht, der hat mir widersprochen.“ Diesen Ausspruch kann man dementsprechend in seinem eigenen Sinne auslegen.
Es ist heute nicht der Islam, der vom Propheten Gottes verkündet wurde. Denn der Prophet ist nur zur Vervollkommnung des Menschen gesandt wurden, zu einer besseren Ethik. Dieser im Laufe der Zeit manipulierte Islam steht für Unterwerfung, für eine ‚Nichtfrageordnung‘, eine Ordnung, in der man gern vorschreiben möchte, was der Gläubige tun darf, was er lassen muss und was er denken darf. Und man tut alles, um ihn als einen unmündigen Bürger zu halten, der ja unbedingt der Hilfe der muslimischen Autoritäten bedarf im Sinne einer selbst gemachten Scharia.
Aber heute verstärken sich immer mehr die Stimmen, die nach einem Leben im Einklang mit einem liebevollen und barmherzigen Gott streben und nicht in Unterwürfigkeit und Angst. Und unsere Moschee ist eine dieser Stimmen.


Manaar

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