Die vielen Stimmen des Koran

17.04.2020

Die vielen Stimmen des Koran

Gleich vorangestellt: Ich meine mit den Stimmen nicht die verschiedenen Lesarten des Korans.

     Als ich den Koran das erste Mal bewusst gelesen habe, stellte ich sehr schnell fest, dass es kein einheitliches Buch ist, sondern eine augenscheinliche Unordnung darstellt und das machte es für mich schwierig, ihn überhaupt zu lesen. Die einzelnen Suren stehen nicht in der Abfolge der Verkündigungen oder innerhalb einer Sure wechselt plötzlich das Thema. Ein Thema, ein Gedanke springt plötzlich zu einem anderen Thema oder anderem Gedanken, ohne, dass er erschöpfend behandelt wurde, taucht an anderer Stelle wieder auf. Ohne sich auf ein tieferes Eindringen einzulassen, ist es fast unmöglich, sich in einem so unübersichtlichen Text zurechtzufinden. Ebenso lassen die Überschriften keine Gliederung erkennen. Aber dennoch, diese mehr als 6200 Verse verkünden eigentlich nur das, was zusammengefasst in den 4 Versen der Sure 112 zum Ausdruck kommt: „1.Sprich:‘ Er ist Gott, der Eine, 2. Gott, der Beständige, 3. er zeugte nicht und wurde nicht gezeugt, 4. und keiner ist ihm ebenbürtig.“ Wenn man tiefer in den Koran eindringt, merkt man schnell: Alles andere leitet sich davon ab oder wird erklärt.

    Der Koran ist ein Dialog. Wir hören darin die Stimme von Gott und die der Menschen.

     Gott spricht nicht allgemein, nicht nur zu irgendeiner Person oder über irgendjemand, sondern zu einer ganz bestimmten Person oder einer bestimmten Gruppe, in einer ganz bestimmten Situation. Man merkt das schon bei der Ansprache. Da heißt es z.B. „O, die ihr glaubt!“, oder „O ihr Kinder Israels!“, „O Adam“, „O ihr Menschen!“ Meistens wird Muhammad mit „Sprich!“ angesprochen. Die Adressaten, mit denen Gott reden möchte, werden also direkt angesprochen. Aber indirekt gilt das Gesagte auch für jede andere Person, also auch wir sind damit gemeint. Wenn Gott z. B. jemand tadelt oder anspornt, so könnte dieser Tadel oder Ansporn vielleicht in einer anderen ähnlichen Situation auch mir oder euch gelten.

    Manchmal kommt in einer Ansprache an den Propheten eine Mitteilung für seine Zuhörer und Gemeinde, was andere Stimmen vorher verlauten ließen, also indem er auf vorangegangene Stimmen eingeht und das Gesagte für die neuen Zuhörer wiederholt und erklärt. Wir müssen uns das heute so vorstellen: Im Fernsehen wird jemand interviewt. Dieser Jemand antwortet dem Interviewer. Das Ganze ist natürlich für die Zuhörer gedacht.

     So ist es auch in der Sure Al -Furqan – Die Unterscheidung, Vers 7: „Sie sagen: ‚Was ist mit diesem Gesandten? Er isst und geht auf den Märkten umher. Warum ist nicht ein Engel zu ihm herabgesandt worden, dass er als Warner mit ihm sei? Oder warum wurde ihm kein Schatz übergeben, oder warum hat er keinen Garten, von dem er isst?‘ Und die Ungerechten sagen: ‚Ihr folgt nur einem Mann, der einem Zauber zum Opfer gefallen ist.‘“ Die Stimmen sind von den Mekkanern, die nicht an Muhammads Sendung glauben. Sie spotten nur über ihn. Gott fasst ihr Gesagtes für Muhammad zusammen und tröstet ihn: ‚Lass dich nicht irre machen, scher dich nicht drum, was sie sagen. Jetzt reden sie so, vielleicht denken sie später anders. Lass also nicht ab in deinem Bemühen.‘ Da aber Muhammad diesen Vers weitergibt, gilt dieser Trost allen, die den Vers vernehmen und auch für diejenigen, die den Propheten vorher geschmäht hatten.

  Meistens spricht Gott zu einer Gemeinschaft von Zuhörern. Gott als Sprecher informiert sie als Empfänger, belehrt sie, wie sie handeln oder nicht handeln sollen.

Manchmal bezeichnet er sich selbst als „Ich“ oder „Wir“.

     Man kann den Koran deshalb nicht als ein Buch verstehen, sondern muss ihn als eine Art Mitschrift einer Gemeindebildung lesen, denn am Ende steht ja nicht nur ein zusammengefasstes Buch da, sondern eine Religionsgemeinschaft, die es vorher nicht gab und die sich erst in diesem Prozess herausbilden muss.

    Wenn wir den Koran auf seine vielen kommunikativen Gestaltungen untersuchen, erkennen wir darin ermahnende Ausdrucksformen, Gesten, auf die man keine Antwort erwartet, sondern lediglich zur Verstärkung einer Aussage dient, Zitate, Wechselreden, Zwischenfragen und Zwischenrufe oder Anmerkungen, um etwas zu kommentieren.

     Normalerweise ist der Sprecher das Göttliche und der Adressat ist der Mensch. Aber es geht auch umgekehrt. Wenn wir die Eröffnungssure, die al-Fatiha rezitieren, wenden wir uns an Gott und bitten ihn und das mindestens 17 Mal an jedem Tag und das in einer Polyphonie, also viele Stimmen gleichzeitig bitten Gott.

     Wir sagen, der Koran ist „Gottes Wort“, also monophon. Dennoch ist er polyphon, denn aus ihm spricht nicht nur Gott, sondern die vielen Stimmen der ersten Generation der neuen muslimischen Gemeinde, die Stimmen, die sich bei Muhammad Rat und Auskunft holen, die Stimmen derer, die Muhammad verspotteten und angriffen und seine Gesandtschaft leugneten. Da sind die Stimmen der Mekkaner, der Medinenser und auch der Juden und Christen, wenn es z. B. heißt: „Sie fragen dich…“ Deshalb ist der Koran einzigartig: Er zitiert nicht nur die früheren Texte und Botschaften, die z. B. im „AltenTestament“ stehen, sondern auch die Antworten auf diese neue Botschaft.

     In einer Rollenrede und unterschiedlicher Sprechhaltung teilt sich Gott den Lesern oder Zuhörern mit. Er ist wie ein leidenschaftlicher und begeisterter Dramaturg, der in vielfacher Form mit uns um Anerkennung und Erkenntnis ringt. Es ist also nicht so, dass Gott uns ständig ermahnt. Er wendet sich sozusagen flexibel an uns. Das heißt für uns: jede Botschaft galt bestimmten Adressaten, die damals lebten. In diesem Licht müssen wir heute diese Verse interpretieren. Wir können das nicht so einfach übernehmen, denn unsere Zeit ist ganz anders aufgebaut. Aber deswegen müssen wir nicht davon ausgehen, dass sie für uns nicht relevant sind und ihre Bedeutung verloren haben.

    Aber auch umgedreht: Wenn die Botschaften des Korans nur für die damaligen Adressaten gegolten hätten, also vor dem Kontext ihrer Zeit nur ihren Sinn besäßen und mit der Zeit ihre Bedeutung verloren hätten, sie dementsprechend nichts mehr zu sagen hätten, dann hätte wahrscheinlich dieser Koran und die islamische Religion nicht überlebt. Indem der Koran sich an uns wendet und wir ihn heute interpretieren und die Botschaft für uns herauslesen können und Inspirationen für uns darin finden, bleibt er lebendig und kraftvoll.

    Beim Studium des Buches „Der Koran und die Zukunft des Islam“ von Abu Zaid fand ich auch das: Wir sprechen das Gebet auf Arabisch. Abu Zaid meint dazu: Das war in der Frühzeit des Islam keineswegs selbstverständlich. Wir wissen, dass sich vier Haupt-Rechtsschulen mit jeweils etwas anderen Akzenten und Methoden entwickelten. Der persische Gelehrte Abu Hanifa im 8. Jahrhundert hatte erlaubt, dass das Pflichtgebet in jeder Sprache verrichtet werden kann. Schon davor war es nicht-arabischen Muslimen erlaubt, die Suren in übersetzter Form zu sprechen, meist in Persisch. Doch im Laufe der Geschichte setzte sich der nachfolgende Rechtsgelehrte Schafi’i mit seiner Schule durch. Nur noch die Rezitation in Arabisch beim Gebet galt und wurde zum Dogma.

    Um den Inhalt der einzelnen Suren zu verstehen, müssen wir die Entstehungssituation kennen. Jüdische Stämme hatten mit den polytheistischen Stämmen zumindest bedingt durch den Handel miteinander Kontakt. Unter ihnen lebten Christen, Zoroastrier und Suchende. Die Mitteilungen, die Muhammad von Gott erhielt, gingen an eine noch nicht islamische Zuhörerschaft. Der Koran ist also als ein Reaktionsprozess auf die unterschiedlichsten Strömungen entstanden, er ist sozusagen eine Mitschrift oder ein Protokoll auf öffentliche Rezitationen mit Aussagen, Fragen, Einwürfen, Rückfragen. Der Koran macht sich durch diese Lebendigkeit und Reaktionen transparent. Das Wort Gottes oder Rede von Gott erweitert sich meines Erachtens zu einer Manifestation vom Wort Gottes. Der Koran spricht deutlich von der Thora, von den Psalmen und anderen heiligen Schriften als frühere Manifestationen von Gottes Wort. Die Bezeichnung „Volk des Buches“ bezieht sich ausdrücklich auf die vorherigen Religionen. Also Gottes Worte wandten sich schon an frühere Leute, die göttliches Wissen haben bzw. erlangen wollten. Gottes Wort gilt also unbegrenzt. Das sagt auch der Vers 109 der18. Sure aus: „Sprich: ‚Wenn das Meer Tinte für die Worte meines Herrn wäre, würde das Meer zu Ende gehen, bevor die Worte meines Herrn zu Ende gehen, auch wenn Wir (Gott) noch einmal so viel hinzubrächten.‘“ Dieser Vers sagt aus, dass das Wort Gottes nicht nur auf den Koran beschränkt ist.

   Angelika Neuwirth fasst zusammen: So betrachtet wird der Koran statt einer Sammlung von Texten verschiedener Gattungen, oder – im islamischen Verständnis- einem göttlichen Monolog, wieder als spätantike Debatte und historisches Drama erkennbar, das komplexe theologische Diskussionen abhandelt. Woraus folgt: Wenn der Koran ein Text ist, der ursprünglich nicht als geschlossenes Buch auf die Welt gekommen ist und nicht wie ein Lehr- oder Gesetzbuch behandelt sein will, müssen die Suren „als Rekurs auf die großen Fragen der Zeit“ verstanden werden, „als Antithese zu im Raum stehenden Prämissen“ und „nicht als kontextlose Rede eines isolierten Sprechers oder gar Autors.

   Und Dr Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide soll noch zu Wort kommen: Der Koran ist das Resultat von Dialog, Debatte, Argumentation Annahme und Zurückweisung. Der Koran als Diskurs kann nur auf diskursive Weise verstanden werden, das heißt, dass sowohl die individuellen Erfahrungen als auch das gesellschaftliche Umfeld des Lesers seine Verstehensweise des Koran beeinflussen.

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