Allah hat viele Gesichter

15.05.2020

Allah hat viele Gesichter

      Ich möchte heute mit einigen Versen des Korans beginnen: Sure Al-An’am (Das Vieh), 6:12: Sage: „Wem gehört alles, was in den Himmeln und auf Erden ist?“ „Sage: Gott, der für Sich Selbst das Gesetz der Gnade und Barmherzigkeit gewollt hat.“ – Der Ausdruck: ‚Gott hat für Sich Selbst…‘ kommt nur 2-Mal im Koran vor (6:54), keine andere Eigenschaft Gottes bzw. sein Gesicht ist so direkt beschrieben worden.

    7 :156: Gott antwortete: „Mit meiner Strafe suche ich heim, wen Ich will – aber Meine Gnade übergreift alles.“

    Ein Hadith, überliefert von Bukhari und Muslim sagt aus: „Wahrlich, meine Gnade und Barmherzigkeit übertrifft meinen Zorn.“ Barmherzigkeit und Zorn, das sind zwei Gesichter Gottes.

     Was bedeutet eigentlich das Wort Allah und woher kommt der Name: Allah ist kein Eigenname, sondern nur das Wort für Gott, etymologisch, das heißt: Geschichte und Grundbedeutung eines Wortes, eine Zusammenziehung von al-lah für ‚der Eine Gott‘. Auch für arabische Christen und Juden ist es darum die Bezeichnung für Gott. Die Polytheisten Arabiens kannten innerhalb ihrer vielen Gottheiten einen der höchsten Götter mit dem Namen Allah. Allah wird in dieser Epoche als einen Hochgott verstanden, der auf den semitischen Gottesbegriff El zurückgeführt wird und die Rolle eines Schöpfergottes einnahm, sonst aber nicht direkt in das Geschehen der Menschen eingriff. Seine genaue Funktion ist nicht wirklich gesichert.

     Allahs Wesen lässt sich mit der Sprache des Menschen nicht festlegen, d.h. es lässt sich nicht vermenschlichen. Dennoch trägt Allah oder Gott im Koran einmal körperliche und dann wieder unkörperliche Züge, auf der einen Seite konkret, begrifflich, also immanent, und auf der anderen Seite nicht begrifflich, also transzendent, abstrakt. Die Sure 112 ist das beste Beispiel, in dem sich Gott als etwas nicht Begreifbares darbietet. „Sprich: Er ist Gott, ein Einziger, Gott, der Absolute, Ewige. Er hat nicht gezeugt, und Er ist nicht gezeugt worden, und niemand ist Ihm ebenbürtig.“

     Ein anderes Beispiel, in dem Gott gleichzeitig immanent und transzendent ist.

Immanenz bedeutet in Bezug auf Gott, dass er in seiner Schöpfung, wie z. B. die Erde oder ich als seine Schöpfung, anwesend, gegenwärtig ist und sie erhält: Er ist mir näher als meine Schlagader, also ist Er in mir und um mich, also immanent, gleichzeitig aber auch abstrakt, transzendent. Transzendenz bedeutet in Bezug auf Gott, dass er als Gott alles übersteigt. Ich kann Gott mit meinen Sinnen nicht wirklich wahrnehmen, nicht in richtiger Weise von ihm oder mit ihm sprechen, weil er anders ist, sich in einer anderen Dimension befindet. Ich bin mir sicher, dass an meiner Schlagader nichts ist, was nicht zum Körper gehört. Ich stoße somit an eine Grenze, die ich aber mit meinen Gedanken überschreiten kann, um mir ein Bild zu machen.

    Etwas Abstraktes, Transzendentes kann man weder lieben noch fürchten, man kann auch nicht mit ihm sprechen. Wir brauchen also etwas, was man sich vorstellen kann, woran man sich festhalten kann, mit dem man sich unterhalten kann. Deshalb richtet sich der Koran an beides: an unsere Vorstellungskraft und an das abstrakte Denken. Ich denke, beide ergänzen sich prima.

    Gott als der Machtvolle und Gott der Barmherzige: Das sind zwei unterschiedliche Haltungen oder Gesichter Gottes, die sich scheinbar widersprechen, aber dennoch zueinanderstehen, sich zu einem Ganzen zusammenfügen.

     Es ist eigentlich bestimmend für unser Verhältnis zu Gott: Eine totale Spannung – auf der einen Seite Gott als der Mächtigste und auf der anderen Seite Gott als Erbarmer. Schon mit der 1. Botschaft an Muhammad stellt sich Gott vor: „Rezitiere im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen erschaffen hat aus einer Keimzelle. Rezitiere, denn dein Herr ist allgütig. Der mit dem Schreibrohr lehrt, lehrt den Menschen, was er nicht wusste. Er hat die Macht zu erschaffen, also uns, aber dennoch gütig zu seinen Geschöpfen zu sein.

     Er berichtet darin von sich: ‚Ich bin dein Herr, denn ich habe dich und das ganze Universum erschaffen und ich bin gütig, barmherzig zu dir, denn ich lege das Wohl deiner Welt in deine Hände und dazu das nötige Wissen.‘

      Es ist eine Zurschaustellung seiner Macht und seiner Barmherzigkeit! Dieser eine Satz beinhaltet alles, was auch der Koran im Ganzen ausführt: ‚Geht nicht vom rechten Weg ab, denn eines Tages werdet ihr zur Rechenschaft gezogen.‘ Und ich könnte mir vorstellen, in diesen paar Worten befinden sich die vielen Gesichter Gottes: die Eigenschaften Gottes, von denen wir 99 Namen kennen. Nur um einige zu nennen: Da ist Gott als der Gnädige, der Sichernde, der Gebende, der Versorger, der Verzeiher, der Gewährende, der Allwissende, der Richter.

   Wenn ich heute darüber nachdenke, spüre ich in diesen ersten Worten einen starken Vorwurf von Gott: ‚Ich habe eine wohlgeordnete Welt erschaffen und euch zum Nutzen übergeben. Und was macht ihr daraus? In eurem Hochmut zerstört ihr sie, eure Grundlage für euer Leben!‘

    Aber zurück zu der Beziehung des All-Mächtigen zu dem All-Barmherzigen. Beide stehen im Zusammenhang; nur eine Seite, das geht nicht. Gott auf der einen Seite, das ist unter Anderem der Gott als der König, der Herrscher, der Allmächtige, der Stolze, der Große, der Tötende, der Mächtige. Er hat in diesen Eigenschaften die Macht zu strafen, aber ich denke gleichzeitig kann ein mächtiger Gott auch liebenswert sein. Ein Richter kann hart strafen oder milde verzeihen, um mich auf den rechten Weg zu bringen und zu halten.

     Auf der anderen Seite finde ich eine Vielzahl von Eigenschaften eines milden Gottes: der Gott des Friedens, des Erbarmens, des Versorgens, der Dankbare, der Nachsichtige, der Gerechte, der Großzügige, der Weise, der Liebevolle.

   Meist stehen sich wie gesagt diese gegensätzlichen Gesichter gegenüber: der Gott des Erschaffens und der Gott des Zerstörens.  Er erschafft ein Volk und droht ihnen aber, sie zu zerstören, wenn sie sich nicht an eine gute Handlungsweise halten. Es kommt sozusagen ein Manuskript zum Tragen, wie der Koranwissenschaftler Abu Zaid meint: ein Konzept, das den Gläubigen einen Weg weist, wie er Distanz zwischen sich und den strafenden Gott bringen und dem liebenden, verzeihenden Gott näher kommen kann.

      Der Koran zeigt uns einmal die Seite des mächtigen, des strafenden Gottes, dann wieder die eines liebenden, barmherzigen Gottes. Aber wenn wir Gott nur als den Barmherzigen sehen möchten, dann beschränken wir ihn nur auf eine Dimension. Das hieße, jeder könnte ja dann irgendwelchen Unsinn oder Schlimmeres fabrizieren. Und wenn wir Gott als einen nur strafenden Gott ansehen, dann müssten wir in Angst und Schrecken leben. Beide haben aber ihre Berechtigung. Einen Mittelweg gibt es nicht. Immer noch ist es für die Menschen angebracht, Strafen auszusprechen oder zumindest aufzuzeigen, um sie zu läutern, um das Gute in ihnen zu stützen. Am Ende wird die Barmherzigkeit siegen, also nicht der strafende, sondern der gerechte und barmherzige Gott.

     Dafür haben wir ein Wort: „taqwa“. Am Anfang meines Muslimseins habe ich das Wort taqwa nur als ‚Furcht vor Gott haben‘ erfahren, was ich aber überhaupt nicht verstehen konnte. Wie kann man einen Gott lieben, wenn man Furcht und Angst vor ihm haben sollte? Erst viel später wurde mir eins klar: taqwa bedeutet Gottesbewusstsein, oder Gottes bewusst sein, oder Gott ist in meinem Bewusstsein. Es bedeutet für mich ein Weg, wie ich dem liebenden und verzeihenden Gott näherkommen kann. Bei taqwa geht es um ethische und soziale Verantwortung, um meine und unsere Verantwortung als Mensch in einer Gesellschaft. Jetzt z. B. hatte ich die Verantwortung, so gut wie möglich mich auf diese Predigt vorzubereiten, sie gut aufzubereiten, damit ihr sie versteht und eventuell sie euch von Nutzen sein kann.

     Im Koran begegnen wir vielen Gesichtern, vielen Eigenschaften von Gott. In der 7. Sure, Vers 180 steht, dass Gott die schönsten Namen gehören. Wenn wir im Koran lesen, dann stoßen wir unweigerlich auf einen schaffenden Gott, auf einen versorgenden oder gestaltenden Gott, auf unseren Richter, auf den Gott des Friedens.  Gott oder das Göttliche hat eben viele Gesichter.

    Zeigt Gott nicht manchmal im gleichen Moment beide Seiten? Zumindest kann man es so denken. Gott kann uns seine liebende Seite zeigen, indem er uns eine Lektion erteilt. Er straft uns, weil er uns liebt. Machen wir das als Eltern nicht auch mit unseren Kindern?

    Gott ist dabei unser Vorbild, denn Er verlangt von uns auch Liebe z. B. zu den Kindern und Barmherzigkeit und manchmal auch eine Strafe aussprechend. Das heißt: Viele der schönsten Namen entstammen von Eigenschaften, die das Göttliche und das Menschliche vereinen. Sie sind wie eine Brücke, die unsere Welt zu Gott überspannt. Natürlich haben wir nicht die Macht und das Wissen Gottes, sondern nur das, was Gott uns zugesteht. Aber wir können das zu unserem Wohl nutzen und voll ausschöpfen.

    Können wir Gott oder das Göttliche überhaupt beschreiben? Mit unseren Worten stoßen wir unweigerlich an Grenzen, denn unsere Sprache ist menschlich. Da ist schon das Problem mit dem Personalpronomen, ich-mich, er-ihn, wir-uns, als ob Gott einem bestimmten Geschlecht zugehören würde. Dagegen spricht aber die schon genannte Sure 112, aus der man entnehmen kann, dass jemand, der nicht geboren wird oder wurde, auch keinem Geschlecht zugehören kann. Wir vermögen Gott nicht mit unserer menschlichen Sprache zutreffend beschreiben, noch können wir ihn mit unserem Verstand erklären. Dennoch vermögen wir ihn mit unserer Vorstellungskraft in unserem Kopf bildlich darzustellen und zu begegnen. Dazu brauchen wir keinen Raum, Zeit oder Endlichkeit. Wir können ihn mit unseren Gedanken vorstellen und mit ihm kommunizieren. Die Vorstellungskraft ist also sehr wichtig für einen Gläubigen. Unser Bild von Gott passt sich dem an, wie wir ihn persönlich erfahren, so wie wir den Koran für uns erlesbar machen.

     Wenn wir zu Gott beten, dann beten wir zu einem konkreten Gegenüber, den wir uns vorstellen können, aber dennoch wissen wir gleichzeitig, dass Gott nicht ‚so‘ ist, wie wir ihn uns vorstellen. Dennoch ist es kein Widerspruch, weil es unsere Gedanken in Bewegung hält und wir immer wieder unsere Vorstellungskraft neu definieren müssen, da wir immer wieder von Neuem durch Gott inspiriert werden.

    Mein Bild von Gott ist das eines liebevollen Schöpfers, der trotz der Warnung der Engel mich und die ganze Menschheit mit den besten Dingen ausgestattet hat, mit Wissen, Neugier und Selbstständigkeit. Mein Bild von Gott ist das eines kommunikativen Gottes, der selbst neugierig über meinen Werdegang ist, der mir hilfreich zur Seite steht und behutsam mich in die richtige Richtung schupst. Nein, es ist kein richtiges Bild, nur eine Ahnung, ein Gefühl für etwas ganz Besonderes, das ich Gott nenne und von dem ich weiß, dass er mich tagtäglich voller Liebe und Barmherzigkeit begleitet und dem ich mit Liebe und Ehrfurcht antworte.

 Manaar

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