Eltern und Kinder

11.09.2020

Eltern und Kinder – Gehorsam gegenüber den Eltern im Islam

In meiner heutigen Khutba geht es um unsere Eltern. Beginnen möchte ich mit einer Geschichte, die scheinbar nichts mit dem Thema zu tun hat. Aber natürlich hat sie es am Ende eben doch.
Als ich etwa am 18. Dezember letzten Jahres eine Verabredung mit meinem Partner hatte, wartete ich vergeblich auf ihn. Es war eiskalt draußen, ich hatte den ganzen Tag gearbeitet, und die Verabredung gegen 20 Uhr war mir wertvoll genug gewesen, Schlaf und einen entspannten Abend zu Hause dagegen einzutauschen.

Müde, aber erwartungsvoll, stand ich am Bahnhof Zoo und schaute alle drei Minute auf die Uhr. Nach einer halben Stunde wartete ich da immernoch und hatte längst begonnen, zu spekulieren, ob etwas passiert sei. War alles in Ordnung?

Nach einer Stunde machte ich mich auf den Heimweg und war zugegebenermaßen recht angesäuert. Insbesondere danach, als ich dann die Erklärung bekam. Sein Vater habe angerufen, und da habe er ja wohl nicht auflegen können. Das Gespräch habe über eine Stunde gedauert. Es sei ein ernstes und autoritäres Gespräch gewesen. Väter lässt man nicht warten.
Man kann also nicht dem Vater kurz sagen, dass die Liebste bei Nordwind auf dem Bahnhof steht, um diesen Vater dann eben nochmal zurückzurufen? Es war in Ordnung, mich dort zu vergessen, aber nicht in Ordnung, dem Vater klar zu sagen, dass man das Gespräch, so wichtig es auch sein möge, zwei Minuten unterbrechen müsse.
Ich zweifelte am Wahrheitsgehalt des Vorfalls und sagte also, dass ich es nicht wirklich glaubte. Ich, so sagte ich weiter, und meinte damit alle Menschen auf der Welt, hätte meinem Vater einfach Bescheid gesagt, und fertig.

Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen.
Eine Woche später rief meine Mutter an. Wir sprachen über Kindheitsgeschehnisse, die geklärt werden mussten. Irgendwann während des Gesprächs rief auch mein Partner an, doch antwortete ich nicht, weil ich das Gespräch mit meiner Mutter nicht unterbrechen konnte. Das ging einfach in diesem Moment nicht, denn es wieder aufzugreifen und an diese gleiche Stelle zu bringen, hielt ich für unmöglich. Diesen Gesprächsmoment wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich hatte mich nämlich zum ersten Mal getraut, meiner Mutter nicht nur ernsthaft zu widersprechen sondern dabei auch die passenden Emotionen zu zeigen, nämlich Ärger und Wut.
Dieses Gespräch konnte, oder wollte, ich nicht unterbrechen, denn wer wusste, wann ich mich wieder einmal trauen würde, meinen Ärger zu zeigen. Dieser, so fand ich, war aber gerechtfertigt und sollte auf den Tisch kommen.
Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht hätte ich meinen Freund auch auf dem Bahnhof warten lassen und heimlich gehofft, er würde einfach nach Hause gehen, statt zu frieren.

Mütter lässt man nicht warten.

Aber das kennt man ja – wenn man sagt, ich mache so etwas nie, dann passiert es einem. Wenn man sagt, ich sage so etwas nie, wird man es mit Sicherheit in der nächsten Woche sagen. Ironie des Schicksals.
Eltern, so dachte ich mir, sind ja wichtig, und man soll ihnen gnädig und liebevoll und mit Verantwortung gegenübertreten. In den Predigten des Islam hören wir regelmäßig, dass man ihnen Gehorsam und gar Unterwerfung schuldet. Aber oft übertreiben sie es mit ihrem Verlangen danach. Wie ist es denn bitte dazu gekommen, dass sich ein erwachsener Mann nicht normal mit seinem Vater unterhalten kann ohne in die Knie zu gehen? Wie kommt es, dass eine erwachsene Frau der Mutter nur mit Bauchschmerzen die eigene Meinung sagen kann?
Ein mir nahestehender Lehrer erzählte mir vor ein paar Tagen, dass eine seiner fünfzehnjährigen Schülerinnen etwa eine Woche lang nicht in der Schule war. Das Mädchen entschuldigte sich Tag für Tag mit neuen Ausreden. Da kam dem Lehrer eines Tages anhand von Whatsapp Fotos die Wahrheit ins Haus gepostet. Das Mädchen war von ihren Eltern zwangsverlobt worden, der Verlobte war im Alter ihres Vaters, so um die 40 Jahre alt. Nun ist die Frau des französischen Staatspräsidenten auch um die 30 Jahre älter als er, und darin liegt zunächst kein Problem. Das liegt aber daran, dass die beiden eine freiwillige Bindung eingegangen sind. Aber zu einer Beziehung gezwungen zu werden ist einfach widerwärtig – auch, wenn der Kerl oder das Mädel im gleichen Alter sind. Es ist praktisch die Legitimation einer Dauervergewaltigung, außer, wenn sie sich zufällig ineinander verlieben. Doch sind wir uns wohl einig, dass man darauf nicht zu hoffen braucht. Das Leben eines Kindes in Trauer gestürzt, – wozu haben die Eltern das Kind bekommen, wenn sie es nun vernichten möchten? Lieben sie es? Wer liebt, so kann ich nur aus meiner eigenen Perspektive behaupten, wird einen solchen Zwang nicht ausüben.

Doch ein anderer Vater sagte mir einst zur Erklärung, meine Kinder müssen mich nicht lieben. Sie sollen mir einfach gehorchen. Am interessantesten findet ich dabei, wenn solche Sätze von Erwachsenen kommen, die als Kinder geschlagen wurden und die wenig elterliche Liebe erfahren durften. Es entgeht uns dabei manchmal, dass unsere Probleme in der Partnerschaft eben genau darauf zurückzuführen sind, dass unsere Eltern unangemessen, lieblos mit uns umgingen oder nicht in der Lage waren eine innere Bindung zu entwickeln.
Dann sagen wir, das Verhalten unserer Eltern habe uns nicht geschadet – hat es aber. Ganz massiv sogar. Wir sind in der zehnten Beziehung, der dritten Ehe, oder unglücklich und verloren in der ersten, und behaupten, nichts habe uns geschadet. Wir haben Depressionen, können keinen Job länger als ein paar Monate halten, doch ignorieren den Zusammenhang elterlichen Schlagens mit Minderwertigkeitsgefühlen, Erfahrungen von Unzulänglichkeit und Depressivität.
Meine Kinder müssen mich nicht lieben. Sie sollen mir einfach gehorchen. Dieser Vater hat etwas missverstanden. Das Eine schließt ja das Andere überhaupt nicht aus.
Der Unterschied liegt darin, ob die Kinder freiwillig tun, was man sich von ihnen wünscht, oder gezwungenermaßen. Das Freiwillige zeigt die wahre Wertschätzung der Eltern. Und darüber hinaus ist das Freiwillige auch nachhaltig. Die Kinder tun dann die guten Dinge auch außerhalb der eigenen vier Wände, wenn die Eltern nicht hinschauen. Sie essen eben ihr Gemüse, weil sie wissen, dass es gesund ist, nicht, weil sie sonst erniedrigt werden. Sie machen ihre Hausaufgaben, weil sie verstehen, dass sie durch Üben und Nachdenken klüger werden und sich das gut anfühlt. Nicht, weil sie sonst gegängelt, weggeschoben oder ausgelacht werden. Oder sie tun das Gute, weil sie ihre Eltern lieben und ihnen einen Gefallen tun möchten. Weil sie möchten, dass ihre Eltern stolz auf sie sind. Und wenn sie einen Partner heiraten, der den Eltern nicht so ganz genau gefällt, dann kann man sich als Eltern damit arrangieren, die Kommunikation aufrecht erhalten und sich nicht grämen, denn schließlich ist es das Kind, das mit diesem Partner zurechtkommen muss und will.

Dazu benötigen Eltern ein hohes Maß an Integrität, eigener Stärke und Glaubwürdigkeit. Das ist nicht immer leicht. Wer beispielsweise beim Jobcenter erniedrigt wurde, will den Konflikt austragen. Da sich aber mit dem Jobcenter nichts austragen lässt, findet eine Aggressionsverschiebung nach unten statt. Die Aggressionen werden nicht selten zu Hause an den Kindern ausgelassen. Das passiert nicht absichtlich, aber es passiert. In Solingen hat gerade eine Mutter fünf ihrer Kinder getötet. Das tat sie sicher nicht aus Freude an ihrem glücklichen und leichten Lebensalltag sondern aus einer Not heraus. Natürlich ist das keine Entschuldigung, aber als Eltern rutscht man in der Tat sehr leicht in eine Überforderungssituation. Eigene Bedürfnisse müssen immer wieder aufgeschoben werden, nicht einmal die Primärbedürfnisse nach essen, schlafen und Sexualität werden in der gewohnten und angenehmen Regelmäßigkeit erfüllt. Eine junge Frau, gerade schwanger und von extremer Übelkeit geplagt erzählte mir gestern, dass sie nur durch Corona vorübergehend arbeitsunfähig geschrieben wurde. Die Frau kann den Kopf nicht heben ohne sich zu übergeben und sollte, so der Betriebsarzt, dennoch weiter im Klassenzimmer stehen und unterrichten. Auch Betriebsärztinnen treffen solche Entscheidungen. Solche Ansprüche stören schon im Vorfeld, also pränatal, die gute Bindung zwischen Eltern und Kind. Als Eltern muss man also von Anfang an kraftvoll für seinen Nachwuchs einstehen.
Doch der Satz: Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust du was ich sage, ist eben auch noch Realität.

Auch andere Personen als die eigenen Eltern können elterliche Funktionen übernehmen. Ich hatte eine solche Erfahrung mit Seyran, die mir allerlei zutraute, was mir meine Mutter nicht zugetraut hätte. So durfte ich erfahren, dass wir an unseren Aufgaben wachsen und es daher gut ist, unseren Kindern viel zuzutrauen. Dieses Vertrauen in meine Fähigkeiten führte auch zu meiner Befreiung. Längst empfinde ich mich nicht mehr als Spielball meines Schicksals sondern als Entscheidungsträgerin – bei aller Ehrfurcht vor dem göttlichen Plan und meinen sicherlich vorbestimmten Wegen. Dies gehört auch zu den verfassungsmäßig verankerten Grundrechten des Menschen: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, solange er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. So heißt es in Artikel 2 des Grundgesetzes. Dazu braucht es mindestens Eltern, die diese Entfaltung ertragen. Doch kann man seinem Kind durch den Bonus des Vertrauens ein interessanteres, größeres Leben ermöglichen und daran teilhaben.
Der Prophet Mohammed hatte keine Eltern. Sein Vater starb vor seiner Geburt, seine Mutter nicht lange danach. Als Waisenkind unterstand er dem Schutz seines Onkels Abu Talib und wuchs mit seinem Cousin Ali gemeinsam auf. Seine Frau Khadija, die deutlich älter war als er, mag ihm auch eine Mutter gewesen sein, die ein solches Vertrauen in ihn hatte, denn als er ihr von seinen ersten Offenbarungserlebnissen in der Höhle berichtete, glaubte sie an ihn und breitete einen Mantel des Schutzes und Behütens über ihm aus.
An unsere Kinder und auch Ehepartner zu glauben ist eine Großartigkeit.
Das Mindestmaß aber bilden der Schutz und die Liebe.
7:189 zeigt, wie sehr wir uns über die Geburt unserer Kinder freuen. Die Kritik an jenen, die Jungen gegenüber Mädchen bevorzugen, folgt in 16:56-59. Waisenkinder, die des bersonderen Schutzes bedürfen werden im Koran mehrfach erwähnt, und stets mit dem Auftrag, ihr Guthaben nicht zu verwenden, sondern es ihnen auszuhändigen, wenn sie erwachsen sind und sie gut zu behandeln.
An keiner Stelle steht geschrieben, dass man seine Kinder unterdrücken sollte, um Gehorsam von ihnen zu erlangen. Nirgends steht geschrieben, dass man schlagen oder erniedrigen solle. Vielmehr geht es überall um Schutz und Wertschätzung, um Akzeptanz und Liebe – seit hunderten von Jahren und auch heute.
Ich wünsche uns allein ein gutes Verhältnis zu unseren Kindern und dort, wo es fehlt, den Mut, das zu verändern.

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