Gesichter der Menschen

07.10.2022

Gesichter der Menschen

Vor einiger Zeit fiel mir ein Artikel bzw. die Fotos darin auf. Eine junge Fotografin proträtierte in ihrem Bericht einige ältere Frauen. Warum aber ältere Frauen, etwa so wie ich, so dachte ich im ersten Moment. Ich betrachtete die Fotos intensiver. Sie alle waren ihrem Alter bewusst. Selbstbewusst schauten sie in die Kamera, zufriedener und gelassener, lachende Fältchen um die Augen. Eine Äußerung einer der Frauen fand ich im ersten Moment interessant, aber auch beunruhigend: „Wie sind deine Beziehungen und wie ist deine Beziehung zu dir selbst? Machst du eigentlich das, was du wirklich machen möchtest? 

    Ich bezog diese Fragen sofort auf mich: ‚Ja, machst du wirklich das, was du selbst gern machen möchtest, welche Wünsche hast du überhaupt selbst, und wie steht es mit deinen Beziehungen zu deinen Mitmenschen und besonders zu dir?“ 

    Irgendwie machten mich diese Gedanken konfus, brachten mich auf einmal durcheinander. Es sind Fragen, die eigentlich jeder für sich beantworten sollte, ich auch für mich selbst. Denn um mich herum werden die bekannten und altvertrauten Gesichter immer rarer. Plötzlich wird einem so richtig bewusst, dass das eigene Leben nur noch eine Spanne umfasst. Nein, ich bekam keine Angst, denn zum Glück ist die Zeit dieser Spanne vollkommen unbekannt. Aber ich fragte mich: „Hast du wirklich alles getan, was du dir einmal vorgenommen hast und was erinnert an dich bei den Zurückbleibenden, wenn du mal nicht mehr bist?“ 

    Im ersten Moment dachte ich an meine Kinder, dann an meine Freunde und Mitstreiter hier in dieser Moschee und dann an Gott und seine Worte. Ja, was habe ich vorzuweisen? 

    Ich weiß, vielen Menschen geht es so, wenn sie über ihr Leben nachdenken. 

Und nein, ich bin nicht ängstlich. Denn ich habe einen wunderbaren Freund, den ich zwar erst vor nicht langer Zeit kennengelernt habe, aber ich weiß, dass er mich schon mein ganzes Leben begleitet hat, kennt mich in und auswendig. Er ist immer da und es gibt Momente, da fühle ich mich ihm so nahe, dass ich manchmal denke, mein Herz würde vor Sehnsucht nach ihm fast zerspringen. Aber sicher kennt ihr dieses Gefühl selbst. Mein bester Freund ist Gott.

     Ja, ich habe etwas vorzuweisen: Meine Kinder stehen in ihren Berufs – und Familienleben ihren Mann bzw. Frau. Und wer meine Predigten kennt, wird hoffentlich auch meine Mühen, mein Wissen weiterzugeben, darin erkennen und vielleicht auch anerkennen. 

  Jeder sollte sich ständig fragen: „Was habe ich richtig gemacht, was falsch, wie kann ich es besser und in Einklang der mich umgebenen Gesellschaft machen. Und was habe ich eines bestimmten Tages vorzuzeigen.“

    Dazu fällt mir gleich ein Vers der 45.Sure „Al-Dschathiya, die Kniende, Vers 22 ein: „Allah hat die Himmel und die Erde in Weisheit erschaffen, so dass jede Seele belohnt wird nach dem, was sie erworben hat und ihnen soll kein Unrecht widerfahren.“ Es klingt in meinen Ohren sehr beruhigend – und in euren?

     Wenn ich eine längere Bahnfahrt z.B. mit der U-Bahn mache, dann schaue ich gern in die Gesichter meiner Mitfahrenden und beobachte sie. Der Junge mir gegenüber versucht lässig zu sitzen, aber seine fahrigen Hände sprechen vom Gegenteil. Auch seine Augen huschen hin und her, als wenn er auf dem Sprung wäre. Ich denke, vielleicht hat er keinen Fahrschein? Zwei ältere Frauen haben sich viel zu erzählen, immer wieder stecken sie ihre Köpfe zusammen, abwechselnd flüstern und kichern sie amüsiert. Sicher tratschen sie über jemanden. Einmal schauen sie mich fast erschrocken an, als wenn ich sie bei irgendetwas ertappt habe. Aber schnell sind sie wieder bei ihrem Tun. Ich kann ihre Lachfalten um die Augen erkennen. Sie haben sich bestimmt ihr Leben genossen. Eine andere Frau versucht, ihr quirliges Kind zum Stillsitzen zu bewegen, aber vergebens. Man sieht ihr ihre Müdigkeit an.  Ich stelle mir die Frage, wann sie das letzte Mal richtig geschlafen hat. Und an der Tür steht eine junge Frau. Sie versucht sich unsichtbar zu machen, niemandem auf die Füße zu treten. Ich kann kaum ihr Gesicht sehen, ein buntes Tuch rahmt es ein. Aber ihre Augen leuchten hervor, trotz Angst huschen sie hin und her und blitzen neugierig durch das Abteil.  Ich denke bei mir: ‚Was erwartet sie von uns? Hilfe, Geborgenheit, Wissen?‘ Sie ist auf den Sprung in eine neue Wirklichkeit, schlimme Erfahrungen hinter sich lassend.

     Wenn man genau hinsieht, kann man in den Gesichtern und Haltung dieser Menschen ihre Geschichten und was sie zu sagen haben, ablesen.  

   Sie sind mir zwar alle unbekannt und dennoch verlangt meine Moral und auch Gott, dass ich mich höflich ihnen gegenüber zu benehmen habe, sie toleriere und in friedlicher Atmosphäre mit ihnen lebe. Aber ist es wirklich immer bei jedem Menschen so? Laden wir die Menschen im Guten in unsere Gemeinschaft ein?

    Meine Gedanken schweifen abrupt ab: Was tun wir für diese Menschen, die ihr Land verlassen, um ein Leben als Mensch führen zu dürfen und zu können. Und tun wir genug? Auch das zählt am Tag des Gerichts. 

     Schauen wir kurz in unsere Verfassung, unsere Grundrechte. Sie unterstreicht unter anderem den Willen, ‚in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen,‘ Grundrechte einer freiheitlich-demokratische Ordnung. Es besagt, wie ich mich meinem Nachbarn gegenüber zu verhalten habe, egal, welche Hautfarbe er hat oder an Gott glaubt oder nicht. Unser Grundrecht spricht über Freiheit des Menschen, Gleichheit für alle, ob Mann oder Frau und besonders mit allen in Frieden leben. Sind das nicht auch Worte, die Gott an uns richtet, uns ans Herz legt? 

    Ich zitiere aus einer von mir vor einigen Jahren gehaltenen Predigt: ‚Im islamischen Verständnis trägt das Wort „Islam” in seiner Wurzel die Bedeutung “Frieden” in sich. Die arabische Wortwurzel s-l-m steht für “wohlbehalten, in Sicherheit”, eben “in Frieden sein”. Auch das Grußwort Salam, Friede, ist daraus gebildet. Islam ist das Friedenmachen durch Hingabe an Gott: Ein Muslim, ein „der sich Hingebender“, findet dadurch Frieden mit sich selbst, seinen Mitmenschen und mit der gesamten     Schöpfung.‘ 

     Gott liebt alle Menschen, denn Er hat sie ja alle geschaffen. Er sagt in der 49. Sure Al-Hudschurat – Die Gemächer, Vers 13, den ich sehr gern rezitiere: „O ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch einander kennen möget. Der Edelste von euch ist vor Allah derjenige, der am gottesfürchtigsten ist.“ Das heißt: egal, welcher Hautfarbe du bist, welcher Nation du angehörst, wir sind eine einzige Familie und wir sollten uns gegenseitig kennenlernen und achten, akzeptieren und helfen.

    Ich möchte wieder zurückkommen auf den Anfang mit der FrageWie sind deine Beziehungen und wie ist deine Beziehung zu dir selbst?“ Ja, für mich spielen die Farben der Menschen, denen ich begegne, keine Rolle. Ich gehe neugierig auf sie zu, manchmal auch etwas zurückhaltend. Und ich weiß, dass ich mich selbst sehr kritisch betrachte, vielleicht manchmal etwas zu viel, so dass ich oft nicht bemerke, wie aufmerksam und freundlich andere zu mir sind und mich schätzen. Aber ich habe ja noch eine Spanne zum Üben.

     Und diese wichtige Frage möchte ich an euch weitergeben. „Wie seht ihr euch selbst und eure Umgebung?“ Schaut in euch, in eure Gesichter hinein und stellt dann diese Frage.          

   Und noch eins: Wir alle leben auf einem Planeten und jeder hat seinen Anteil am Leben darauf. Und wir alle bilden eine große Gemeinschaft der Menschen. Ist es da nicht egal, welcher Religion, welcher Nation er angehört und welche Farbe sein Äußeres ist. Jeder ist anders und dennoch gleich. Darum geht das Schicksal der Erde und auch der Menschen uns alle an.

  Manaar

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