Arabien im 6. Jahrhunder

26.11.2021

Arabien im 6. Jahrhunder

 

In dem Gerangel der Parteien und Personen in den letzten vergangenen Wochen ging es immer um eine bessere Position, um Funktionen und Ämterverteilung, also um Macht. Irgendwie rutschten meine Gedanken um etliche Jahrhunderte zurück. Ausgehend von diesem Positionskampf kamen mir die Gedanken, diese Situation heute mit den damaligen Verhältnissen in Mekka und Medina zu vergleichen.  Meine Fragen lauten demnach: Was für Menschen waren es damals und wie waren sie? Wie standen sie zu Religionen? Und wie ist es heute in der Welt des Islam?

Um den Koran in seiner Zeit richtig einzuordnen und für heute zu verstehen, muss man die Situation, die örtlichen und zeitlichen Begebenheiten in Mekka und später in Medina, vormals Yathrib kennen.  Arabien war aufgegliedert in Stammesgebiete. Damals ging es ebenso um die bessere Position innerhalb eines Stammes, innerhalb eines Clans und Familien, wie auch der einzelnen Stämme innerhalb einer Ortschaft. Es bildeten sich städtische Zentren heraus, in denen sich eine Stammesaristrokratie der einzelnen Clans entwickelte, die sich untereinander ständig bekriegten. 

Jeder dieser Stämme bzw. Ortschaften sprach in seinem eigenen Dialekt, als der Koran gesandt wurde, so auch in Mekka. Hierzu muss gesagt werden, dass heutige arabische Philologen erkannt haben, dass die Sprache, die Gott im Koran arabisch nennt, nicht mehr das Arabiyya der späteren Generationen sein kann. Das heißt für mich, dass die Verse, die in Mekka gesandt wurden, vorerst für die Leute in Mekka und ihrer Umgebung galten, vorerst, denn Mekka war nicht isoliert. Aber darüber mehr in einer nächsten Predigt. Das sagt auch selbst die 42. Sure Asch-Schura, die Beratung, Vers 7 aus: „Und so haben Wir den Koran auf Arabisch offenbart, auf dass du die Mutter der Städte warnst und alle rings um sie, auf dass du (sie) vor dem Tag der Versammlung warnst, über den kein Zweifel herrscht. Eine Gruppe wird im Paradies sein und eine Gruppe im flammenden Feuer.“ Also könnte die Sprache des in Mekka herrschenden Stammes der Quraisch und der umliegenden Ortschaften die Koransprache sein. Die Mutter aller Städte war Mekka.

Es gab auch ein stammesübergreifendes poetisches Arabisch. Im 6.Jh. tritt urplötzlich eine arabische Sprache mit einer hoch entwickelten Poesie in Erscheinung, die höchstwahrscheinlich in ganz Arabien verstanden wurde. Damit könnte eine arabische Hochsprache geschaffen wurden sein.  Sie spielte eine große Rolle bei Dichterwettkämpfen auf Märkten. Hier konnte man in einer festgelegten kampffreien Zeit den eigenen Stamm mit Worten hervorheben, andere Stämme verspotten. Diese arabische Dichtersprache versuchte man später bei Deutungen des Koran heranzuziehen. Aber es gab auch noch eine syro-aramäische Handelssprache, die wohl jeder entlang der Handelsstraßen verstand.  Heutzutage avanciert sie wohl zu einer alten, aber ernstzunehmenden Sprache zur Erklärung und Deutung etlicher Worte des Korans, denn immer noch gibt es nichterklärbare Wörter im Koran. In Yathrib wurde ein Jüdisch-Aramäisch gesprochen, welch ein Sprach-Babbel muss überall geherrscht haben!

Arabien war reich an Gottheiten und Ritualen, so hatte jeder Stamm seine eigenen Götter. In Mekka gab es neben dem Hauptgott Allah noch drei andere Göttinnen. Dazu kamen Einflüsse aus dem Juden- und Christentum. Ganze Stämme waren in nicht allzu entfernten Orten zum Judentum übergetreten, wie in Yathrib. Auch ‚Sinnsuchende‘, die ‚Hanifen‘ brachten ihre Ideen in den Götterhimmel mit ein. Für mich muss es ein heilloses Durcheinander unter den angestammten Göttern gegeben haben. Dennoch versuchte jeder Stamm auch mit Hilfe ihrer Götter sich in eine beherrschende Position zu bringen. Stetig gab es kämpferische Streitigkeiten untereinander, bis auf die heiligen Monate, in denen vereinbarte Waffenruhe gab. Heute wird nur wortgewandt gestritten.

Arabien war damals durch seine profitbringenden Handelsstraßen von den Nachbarreichen ein begehrtes Land. Ein Knotenpunkt der westlichen Handelsstraße    war Mekka, ebenso ein bedeutender Pilgerort. Darum war es wichtig, dass einmal im Jahr die Fehden aufgehoben wurden für ein friedliches Miteinander der Pilger- und Handelsreisenden, so auch in Mekka. Ein vielberühmtes Ziel der Pilger war die Kaaba mit ihrem ‚Schwarzen Stein‘, vermutlich ein Rest eines Meteoriten. Eigentlich waren es früher mindestens 15 kleine Fragmente, heute sind nur acht davon übrig und werden durch eine Silbereinfassung und etwas Zement zusammengehalten. Diese Pilgerströme waren für Mekka lebenswichtig, brachten sie doch neue Ware, aber auch Religionsansichten und deren Requisiten mit und machten die Stadt reich und bedeutend. Aber eine genaue Vorstellung vom Leben und Handel damals in Arabien gibt es heute kaum, es gab ja kaum Schriftliches. Die arabische Schrift war nur als Gedankenunterstützung gedacht. Selbst die Gedichte wurden nur auswendig vorgetragen.

Wir können uns nur vorstellen, dass auf diesen Karawanenwegen zwischen Nord- und Südarabien nicht nur Handel betrieben wurde, sondern dass es auch zum kulturellen, sozialen und religiösen Austausch gekommen sein muss, wenn auch langsam, nicht wie heute im Zeitraffertempo. Heute wird diese Zeit Dschahiliyya, Zeit der Unwissenheit genannt, eigentlich ein für mich nicht zutreffendes Wort, denn es gab ja noch nicht den Koran. Die Leute waren alle fest durch das Band des Stammes verbunden. Deshalb brauchte man auch nur ein Gesetz, das des Stammes. Heutzutage braucht man eine Armee von Experten zur Erklärung bestimmter gesetzlicher Artikel. In diesem Durcheinander der religiösen Strömungen gesellen sich nun neue Verse, Gottes Worte, die Ihn preisen und eine bestimmte Richtung vorgeben, eine neue Ethik des Zusammenlebens aller in Anerkennung Gottes. Ich könnte mir vorstellen, dass sie Grundlage für ein kontroverses Diskutieren vieler Mekkaner waren, ob sie zur neuen Gefolgschaft des Propheten Muhammad gehörten oder Andersgläubige, diskutierend, streitend, abweisend, fragend, verstehend. Im Koran können wir ihre Fragen erkennen durch Antworten von Gott. 

Sicher gab es einige, die sitzenblieben und weiter zuhörten, andere gingen verständnislos fort, sich wundernd über die neuen Worte wie das Jenseits, Paradies und Hölle, über das Gericht Gottes am Jüngsten Tag. Es war für sie vielleicht etwas Unbegreifliches, dass sie sogar „Stellvertreter Gottes auf Erden“ sein sollen. Einige andere erkannten vielleicht ihre eigene Religion wieder, aber in einem neuen Licht. Viele meinten jedoch, dass das, was die Vorväter anbeteten, schon das Richtige sein würde. So richteten sie ihren Ärger und Zwist gegen den neuen Propheten und dann später gegen seinen ganzen Clan. Schließlich ächteten die Andersgläubigen ihn sogar, sodass etliche um ihr Leben fürchten mussten und darum nach Yathrib auswanderten. Ich frage mich immer wieder, wie es zu dem Koran gekommen ist, der heute uns vorliegt. 

Ali, der 4. Kalif soll sich zur Deutbarkeit des Koran so geäußert haben: „Der Koran ist eine Schrift, die zwischen zwei Buchdeckeln versteckt ist. Er spricht nicht. Es bedarf eines Übersetzers, und wahrlich, es sind die Menschen, die ihn zum Sprechen bringen.“ Nun, ich bezweifle, dass es schon zwei Buchdeckel gegeben hat, da der Koran ja noch nicht als Buch gesammelt wurde. Nein, der Koran spricht nicht selber. Es sind die Worte Gottes, die durch ihn sprechen und sich an seine Adressaten gewandt haben.  Und ja, die Leser, seine Adressaten bringen ihn immer wieder neu zum Sprechen. Der Koran wurde zunächst mündlich überliefert. Aber nicht jeder konnte den ganzen Text auswendig. Hier könnten sich schon Fehler beim Weitergeben eingeschlichen haben. Die arabische Schrift war noch unvollkommen. Das Problem war, dass es anfangs nur sieben Konsonanten, durch ihre Form deutlich erkennbar gab. (Alif, k, l, m, r, h, u bzw. w). Die frühe arabische Schrift könnte mehr eine Art Kurzschrift gewesen sein als eine Art Gedächtnisstütze beim Rezitieren, wie heute sogenannte Eselsbrücken. Erst viel später wurde sie durch ein entwickeltes Punktationssystem lesbar. Auch hier könnten sich Fehler einschleichen, wenn man die Punkte an falscher Stelle setzte. Und schon wurde ein Text verändert und unverständlich. 

Im Laufe der Zeit versuchten verschiedene Kommentatoren solche Stellen zu beleuchten und ihnen einen Inhalt zu geben. Die Sprache, die die Bewohner von Mekka sprachen und in der die ersten Suren geschrieben wurden, gab es schon 200 Jahre später nicht mehr. Man zog sogar die arabische Dichtkunst zu Rate.  Und wie gesagt, heute versuchen es einige unserer Philologen mit der syrisch-aramäischen Schrift. Es war ja die alte Sprache der Handelsreisenden. Durch die Vielfalt der arabischen Dialekte ergab es sich, dass mehrere koranische Lesarten entstanden. Sie alle hatten ihre Berechtigungen, solange sich kein offensichtlicher Widerspruch ergab. Erst Kalif Uthman entschied sich durch die schriftliche Festlegung für eine Lesart. Aber erst der Druck der Kairiner Koranausgabe 1924 wurde zur Standardausgabe und zum heute verbindlichen Korantext. 2015 müsste eigentlich die islamische Welt aufgeschrien haben, denn britische Wissenschaftler haben die vielleicht älteste Koranhandschrift der Welt wiedergefunden, es waren zwei Seiten mit den Suren 18 bis 20. Durch die Radiokarbonmethode konnte man ein Dokument nur näherungsweise datieren. Sie ergab für die Handschrift eine mögliche Entstehungszeit zwischen 568 und 645. Muhammad starb 632. Könnte diese Manuskriptdatierung zutreffen, könnte der Schreiber zu Lebzeiten des Propheten gelebt oder ihn sogar persönlich gekannt haben. Muhammad Isa Waley, Experte der British Library, sagte gegenüber der BBC: „So oder so, nicht zuletzt wegen der schieren Schönheit des Dokuments und der erstaunlich klar lesbaren Handschrift, ist der Fund eine Nachricht, die die Herzen der Muslime jubeln lassen wird.“ Vielleicht ergeben diese beiden Blätter ein wichtiges Puzzle bei der Rekonstruktion des Urkorans.

Ich hatte anfangs gesagt, durch Antworten Gottes im Koran können wir auf die Fragen der Zuhörer von Muhammad beziehungsweise auf besondere Situationen schließen wie z.B. in der 27. Sure al-Naml- die Ameisen, Vers 67: „Und jene, die ungläubig sind, sagen: ‚Wie? Wenn wir und unsere Väter zu Staub geworden sind, sollen wir dann wirklich wieder hervorgebracht werden?‘“  und weiter in Vers 71: „Und sie sagen: ‚Wann wird diese Verheißung erfüllt werden, wenn ihr die Wahrheit redet?‘“ Und Gott antwortete prompt mit dem nachfolgenden Vers: „Sprich! Vielleicht ist ein Teil von dem, was ihr zu beschleunigen betrachtet, schon nahe herangekommen.“ Für die Vielgläubigen gab es kein Jenseits, kein Paradies. Sicher fragten sie zweifelnd den Propheten danach. Es war ein Dialog zwischen Muhammads Zuhörer und Gott und Vermittler war der Prophet. Und heute? Durch die vielen Strömungen im Islam, die alle den richtigen Weg für sich vereinnahmen möchten, ist es noch der Islam, den der Prophet Muhammad propagierte?

Gibt es überhaupt den wahren Islam? Oder ist das, was ich fühle, wenn ich mit Gott spreche, Ihn ehre und danke, mein wahres Gottesverständnis? Für jeden einzelnen Muslim sein eigener Islam! Und heißt nicht Islam wörtlich das „Sich-Ergeben“, also sich in den Willen Gottes ergeben oder „Sich-Unterwerfen“. Die Muslime sind demnach „die sich in den Willen Gottes ergeben“. Jeder Einzelne ergibt sich in seiner eigenen Beziehung zu Gott. Und ergeben sich nicht auch die Juden und Christen in den Willen Gottes? Denn Gott wendet sich in etlichen Versen des Korans ebenso an sie. Sind sie dann nicht auch Muslime, unsere Geschwister? 

Eigentlich wollte ich euch heute nur darauf aufmerksam machen, dass es ungemein wichtig ist, den Koran in seiner Zeit seiner Sendung zu betrachten, um dann seine Aussagen nach heutigen Kriterien zu bemessen. Erst dann kommen wir ihm näher.  In einer nachfolgenden Predigt werde ich mich um die Entstehung und Bildung der ersten Gemeinschaft im Islam bemühen.

Manaar

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