Weihnachten – Ein Mythos

25.12.2020

Assalamu alaikum wa rahmatullah wa barakatuhu

 

Sure 2, Vers 136
„Sagt: Wir glauben an Gott und an das, was uns von droben erteilt worden ist, und das, was Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und ihren Nachkommen erteilt worden ist, und das, was Moses und Jesus gewährt worden ist, und das, was allen anderen Propheten von ihrem Erhalter gewährt worden ist: Wir machen keinen Unterschied zwischen irgendeinem von ihnen. Und Ihm ergeben wir uns.“
Sure 5, Vers 46
„Und wir ließen Jesus, den Sohn der Maria, in den Fußstapfen jener früheren Propheten folgen, die Wahrheit dessen bestätigend, was immer von der Torah noch erhalten war, und wir gewährten ihm das Evangelium, in dem Rechtleitung und Licht war, die Wahrheit dessen bestätigend, was immer von der Torah noch erhalten war und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesbewussten.“
„Für jeden von Euch, Juden, Christen und Muslime, hat er ein Gesetz und eine Lebensweise bestimmt. Wetteifert denn miteinander im Tun guter Taten.

In meiner heutigen Khutba geht es um den Mythos von Weihnachten und um das Schenken von Gold, Weihrauch und Myrrhe.
Denkt euch, ich habe das Christkind gesehn. Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee. Mit rot gefrorenem Näschen. Die kleinen Händchen taten ihm weh. Denn es trug einen Sack, der war gar schwer, schleppte und polterte hinter ihm her. Was drin war wolltet ihr wissen? Ihr Naseweis, ihr Schelmenpack, meint ihr, er wäre offen der Sack? Zugebunden bis oben hin. Es war gewiss was Schönes drin. Es roch so nach Äpfeln und Nüssen.

Mein Lieblingsgedicht meiner Kindheit sprach von Entbehrung und Kälte. Wie kalt war dem Christkind im Wald. Wir rot das frierende Näschen. Es weckte in mir ein Gefühl von Liebe und Mitleid. Ich identifizierte mich mit dieser Figur, und wollte sie zugleich so gerne wärmen und schützen.
Dass da nur Äpfel und Nüsse im Sack waren, fand ich etwas befremdlich, es war schließlich Weihnachten, und ein paar Geschenke sollten schon drin sein.
Außerdem fragte ich mich immer, wie denn das Christkind aus der Krippe in den Wald gekommen war, wie alt es wohl sein möge, wenn es ein Kind war, wo denn seine Eltern waren, und warum es überhaupt für die Geschenke zuständig war. Das war doch eigentlich die Aufgabe des Weihnachtsmannes.
Doch eventuelle aufklärerische Gedanken fegte ich schnell beiseite wie Pulverschnee, denn das Gedicht war mir eine frühe Lektion in der Unterscheidung zwischen Mythos und Realität. Dass dieses Gedicht nicht „echt“ sein konnte, merkte jeder Vierjährige. Es war mir eine Lektion, wohlgemerkt, zwischen Mythos und Realität – nicht zwischen Mythos und Wahrheit, denn der Mythos ist gewissermaßen eine Form der Wahrheit. Er ist die Verbildlichung oder Vertonung, also der reale Ausdruck, von Gefühlen und Gedanken, Wünschen und Hoffnungen, die reell vorhanden sind, und ganz tief in uns wohnen, deren realer Ausdruck aber nicht reicht, um den Kern zu treffen.

Kein faktischer Satz kann beschreiben, was der Mythos beschreibt, und welcher von beiden der Wahrheit näher ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Das Bild eines kleinen Kindes im Wald, reinen Herzens, im Hemdchen, mit zu verteilenden Gaben, in einem schwer zu tragenden Sack, der den Rücken ermüdet, mag der Eine als Unsinn abtun, für den Anderen ist es eine valide Form des Ausdrucks der innersten Emotionen – Gefühle und Beweggründe also.

Die Stille des Waldes, in dem wir, „hush“ ein Christkind gesehen haben, heißt vielleicht nichts anderes, als dass tief in der Stille unserer Seele etwas wohnt, ein Gefühl von Liebe, Glaube, Hoffnung, Iman, das man nicht benennen, aber sehr wohl fühlen kann. Versinnbildlicht wird es im Bild des imaginären Christkindes. Indem wir dem diffusen Gefühl einen Körper geben, wird es zum Einen erträglicher, bleibt nicht als quälende Sehnsucht, sondern wird, durch die konkrete Formgebung, als etwas außerhalb Liegendes fassbar.
Zum anderen wird hier verdeutlicht, dass das Lieben, Hoffen und Wünschen nicht in uns stecken bleiben soll, sondern ausgedrückt werden soll in unserer Liebe zu einem Wesen – zunächst dem Christkind, aber im weiteren Schritt dann zu allen Menschen und schließlich zu Gottes Schöpfung schlechthin. So lernen wir durch unsere selbstgewählte Mythologie, gute Menschen zu sein.

Nicht nur in Kindergedichten ist der Mythos wichtig. Das ganze Weihnachtsfest ist ein einziger Mythos. Erwachsene können sich dabei entscheiden, woran sie glauben möchten. Die Realität ist historisch verlorgen gegangen, bzw. wenn man sie beschreibt, wird auch sie sofort zum Mythos. Da hat sich Gott etwas Spannendes für uns ausgedacht.
Der Mythos der Erwachsenenwelt beginnt damit, dass Jesus’ Geburt auf den 25.Dezember fällt. Das ist seit jeher ungefähr der Tag der Wintersonnenwende. Jesus ist zwar, so informieren uns die Historiker, irgendwann im Sommer geboren, aber traditionell feierten bereits die ersten Christen das Weihnachtsfest zur Wintersonnenwende, ein Tag, den man schon seit der Steinzeit berechnen konnte und der auch schon immer religiös aufgeladen war.
In diesem Jahr, 2020, fällt die Wintersonnenwende in Berlin auf Montag, den 21.Dezember, um 11:02 Uhr. Mit dem Beginn des gregorianischen Kalenders wurde der Weihnachtstag auf den 25.12. festgelegt. Dass wir mit dem 25.12. eigentlich an einem falschen Tag Weihnachten feiern, finde ich persönlich gänzlich unerheblich. Es ist schön, wenn alle des Propheten am selben Tag gedenken können und dafür nicht zu arbeiten brauchen. Welcher Tag das ist, ist doch letztlich egal, solange es für alle derselbe Tag ist. Der tiefe Winter eignet sich für diesen Tag vorzüglich, weil die Metapher so schön passt, dass Jesus Licht in die Welt brachte, und weil man so in den langen Tagen winterlicher Dunkelheit eine Freude erlebt.
Ein weiterer Mythos ist, dass Jesus in einer Krippe geboren wurde und dass drei Weise aus dem Morgenland symbolträchtige Geschenke brachten. Ein schöner Mythos, der mich immer besonders bewegt hat. Angeblich brachten sie Gold, Weihrauch und Myrrhe. Welch ausgesuchte Gaben!

Myrrhe ist ein Bitterkraut, das die Bitterkeit des Lebens und Todes Jesu voraussagt. Myrrh heißt auf arabisch bitter.

Weihrauch findet man auch in der Form von Räucherstäbchen – er symbolisiert die Heiligkeit Jesus als Propheten.

Und Gold schließlich soll zeigen, dass es sich bei diesem Kind in der Krippe um einen König handelt.
Was ist das für ein König, der arm und einfach geboren wird? Ein erhebendes Bild für die Armen und Einfachen, eine wunderbare Metapher für ein Kind. Denn jeder Mensch ist wertvoll wie ein König, wertvoll wie eine Königin. Wer diesem nicht zustimmt, irrt. Es ist einer der ganz wenigen Grundsätze, in denen wir fast alle zumindest theoretisch übereinstimmen. Wir handeln selten danach, doch werden wir konkret nach dem Wert eines Menschen befragt, so antworten wir, jeder Mensch hat zumindest prinzipiell und zumindest zunächst einmal denselben Wert.

Gold РIst nicht jedes Kind ein K̦nig, eine K̦nigin?
Weihrauch – Ist nicht jedes Kind ein Mensch und damit geweiht und unter Gottes Schutz gestellt?
Myrrhe – Ist nicht jedes Leben bitter? Zumindest zuzeiten und für viele Menschen dieser Erde? Und der Tod, wie bitter ist er.

Die Weihnachtsgeschichte ist eine wunderbare Mythologie, die uns aufzeigt, dass wir uns wertschätzen sollen. Gegenseitig und uns selbst.

Den Mythos zu streichen und nur die Realität zu sehen, heißt also nicht, der Wahrheit näher zu kommen. Denn die Wahrheit liegt tiefer als die Realität. Doch lässt sich die Weihnachtsgeschichte das Streichen des Mythos sowieso nicht gefallen. Sie wird ganz einfach zum neuen Mythos.

Was bleibt also von der Weihnachtsgeschichte, wenn man den Mythos streicht?
Ein jüdischer Mann namens Youssuf und dessen Frau Mariam, mussten vor etwa 2000 Jahren ihre Heimat verlassen, denn Kaiser Augustus wollte sein Volk zählen und sie waren ursprünglich aus Bethlehem. Dorthin mussten sie nun also zurückkehren, um an der richtigen Stelle gezählt zu werden. Hochschwanger gehorchten sie der herrschaftlichen Anweisung und wanderten viele Kilometer. In Bethlehem schließlich wurde das Kind schon gleich nach der Ankunft in einfachen Verhältnissen geboren. Wahrscheinlich leuchtete tatsächlich ein besonders heller Stern nicht weit von Jesus Geburtsstelle, so las ich es von Astrologen. Es mag eine besondere stellare Konstellation gewesen sein. Und nicht unwahrscheinlich ist, dass Hirten und Könige dorthin pilgerten um diese Stelle aufzusuchen. Sicherlich brachten sie bei ihrem Besuch Geschenke mit. Das tut man, beim Besuchen. Doch davon erfuhr auch der König Herodes, den gab es ja wirklich. Dieser sah in Jesus einen Widersacher, und wollte das Kind ermorden lassen.
Als die Eltern diese Kunde erhielten, entschieden sie sich zur Flucht, um ihr Kind zu retten. Mit wenigen Mitteln und großem Gottvertrauen begannen sie ihren langen Weg aus Bethlehem nach Ägypten, wo sie sicher sein würden vor der Willkür des königlichen Alleinherrschers.
Der Weg war voller Gefahren. Mehr als einmal stand ihr Leben auf dem Spiel. Es kann nicht anders gewesen sein, das sagt uns unser Menschenverstand. Jede Flucht ist gefährlich, und eine Flucht vor einem grausamen König vor 2000 Jahren war es allemal. Und hätte Mariam nicht genügend Milch für ihr Kind gehabt, wäre es unterwegs gestorben. Auch das sagt uns unser Verstand. Sie muss eine kraftvolle Frau gewesen sein, die sich gut um ihr Kind sorgte. Ihr Mann Joseph ein kraftvoller Mann, der eine so schwierige Flucht überlebte. Sie müssen sich an Helfer gewandt haben unterwegs und waren sicherlich abhängig von der Gnade und Zuwendung anderer Menschen, auf die sie trafen. Sie werden dankbar gewesen sein. All das taten sie für ein Kind, Mariams Erstgeborenes. Das Kind, das auf ganz besondere Weise mit Gott verbunden war, so erinnert uns der Weihrauch, einen bitteren Lebensweg haben würde, so erinnert uns die Myrrhe, und dennoch ein König war, so erinnert uns das Gold.
Alles haben sie gegeben, für ihr Kind – ihre Liebsten, ihre Freunde, ihr Haus und ihr Vieh – und sind ausgewandert, damit es leben würde. Ein Mythos der Flucht.

In der Oper Amahl and the three night visitors, der Weihnachtsoper von Menotti, singen die Mutter des armen Jungen Amahl und einer der heiligen drei Könige ein Lied über ein Kind. Die Mutter meint beim Singen mit ihren liebevollen Worten ihr Kind Amahl, der König meint mit eben diesen selben Worten den Propheten Jesus. Zwei Kinder, dasselbe Lied. Um es mit Carl Sandberg zu sagen: There is only one child in the world and the child’s name is All Children.

Jetzt sind wir mitten in den Weihnachtstagen. Was brauchen unsere Kinder? Was brauchen wir? Was schenken wir uns? Darin, dass wir Wünsche haben, unterscheiden sich Muslime, Christen, Juden und überhaupt alle Menschen gar nicht voneinander. Wer keine Wünsche hat, der hat entweder zu viel Besitz oder gar keinen und muss wohl viele Enttäuschungen erlebt haben.
Eines der Geschenke ist, sich zuzuhören und füreinander Zeit zu nehmen. Den anderen in seiner Wichtigkeit zu bestätigen. Es ist der Weihrauch.
Ein weiteres ist, seine Zunge zu zügeln bei der Wahl seiner Worte und für unseren Gesprächspartner die guten davon auszuzuchen, ohne das zu ignorieren, was einen wütend macht. Auch darüber darf gesprochen werden! Es ist die Myrrhe.
Und ein wunderbares ist, sich zu berühren, zu streicheln, sich in den Arm zu nehmen und zärtlich miteinander zu sein. Mit dem Partner, der Partnerin, mit den Kindern. Denn ohne die körperliche Empfindung von Liebe, wird auch die Seele matt. Wo es die Sitte gebietet, jemanden vorsichtig am Arm berühren, über die Schulter streichen. Jemanden zu allermindest mit dem eigenen Blick berühren. Es ist das Gold.

Die materiellen Geschenke erfreuen uns auch und können die Erinnerung an die Geburt eines Propheten begleiten. Wohl ausgesucht und in Maßen.

Der Mythos des Christentums bietet für uns Muslime eine Wahrheit, die wir mit den Christen teilen. So sind diese Tage für uns alle von wunderbarer Bedeutung. Ein Prophet wurde geboren – viele Propheten hat uns Gott geschickt, immer wieder, um uns zu erinnern, dass wir nicht allein sind, und um uns einen guten Weg zu zeigen. Nicht das Trennende soll hier im Vordergrund stehen, sondern das, was uns verbindet und uns zu einer Gemeinschaft macht. Der Gemeinschaft derjenigen, die Gott in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen und verstehen, dass dies bedeutet, uns gegenseitig zu unterstützen in einem Leben, das manchmal voller Glück und Freude ist, gleichsam honigsüß, und manchmal eben myrrh.
Ich wünsche euch und allen Menschen ein wunderschönes Fest zur Geburt des Propheten Jesus – in Einigkeit und Frieden.

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